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Verlag Fritz Gurlitt (Berlin) [Contr.]
Almanach auf das Jahr ... — 1919

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MATTHIAS GRÜNEWALD

würden. Sonst blieb Bruder Matthias ganz für sich allein. Brauchte
keinen Gehilfen bei der Ausmalung seiner Entwürfe noch einen Lehr-
ling, der ihm die Farben zu reiben und zu mischen hatte. Nur bei
der Geißelung der Brüder, die gewöhnlich am Freitagmorgen stattfand,
war er meist als Zuschauer zugegen. Auch wenn einer der Mönche
gestorben war, sah man stets Bruder Matthias bei der Waschung des
Toten oder bei der Leichen wache eifrig in das Anschauen der kalt
gewordenen Gliedmaßen vertieft. Sonst fiel nichts mehr an ihm auf,
außer daß er von Woche zu Woche bleicher und hinfälliger wurde,
so daß der Abt, da er ihn das letztemal hatte zu sich rufen lassen,
sich Sorge machte darüber, ob er ihn noch weiter mit dem Werk
bemühen oder ihm nicht eine Ruhepause geben sollte. Doch Bruder
Matthias erklärte, daß er binnen kurzem mit der Arbeit fertig wäre
und sich dann genügend erholen könne. Man möge ihn nur noch
wenige Tage still in seiner Zelle wirken lassen.
Der Abt Guido Gersi war ein verschlossener, eigentümlicher
Herr. Einige meinten, seine Melancholie habe ihren Grund in
einer unglücklichen Liebe, die ihn als Jüngling ergriffen habe. Die
anderen führten die Wurzel seiner Traurigkeit auf ein großes Heim-
weh nach Italien zurück, daran er, seitdem er die Alpen überstiegen
hätte, mit wachsender Gewalt trüge. Jedenfalls war sein der Schwer-
mütigkeit zugeneigtes Wesen, demzufolge er auch für den absonder-
lichen einsiedlerischen Maler ein tiefes Verständnis fühlte, der Anlaß
zu manchem Ungewöhnlichen in seiner Lebensführung. Als er nun
eines Nachts, kurz nach seiner letzten Unterredung mit dem Künstler,
zu einer Stunde, wo die andern längst schliefen, auf den Klosterhof
hinaustrat, um von dort die dunkel schlummernden Vogesen zu be-
trachten, bemerkte er Licht in der Zelle des Malers. Er näherte
sich leise dem Fenster und benutzte eine dort stehende Zypresse, um
hinter ihr unbemerkt einen Bück in die Zelle und Werkstatt des
Malers zu werfen.
 
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