Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0184

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Hans Magnus Enzensberger
Randbemerkung zum Weltuntergang

Die Apokalypse gehört zu unserem ideologischen Handge-
päck. Sie ist ein Aphrodisiakum. Sie ist ein Angsttraum. Sie ist
eine Ware wie jede andere. Sie ist, meinetwegen, eine Metapher
für den Zusammenbruch des Kapitalismus, der bekanntlich seit
über hundert Jahren unmittelbar bevorsteht. Sie tritt uns in
allen möglichen Gestalten und Verkleidungen entgegen, als
warnender Zeigefinger und als wissenschaftliche Prognose, als
kollektive Fiktion und als sektiererischer Weckruf, als Produkt
der Unterhaltungsindustrie, als Aberglauben, als Trivialmy-
thos, als Vexierbild, als Kick, als Jux, als Projektion. Sie ist all-
gegenwärtig, aber nicht „wirklich": eine zweite Realität, ein
Bild, das wir uns machen, eine unaufhörliche Produktion unse-
rer Phantasie, die Katastrophe im Kopf.

Sie ist all dies und noch mehr, nämlich eine der ältesten Vor-
stellungen des Menschengeschlechts. Über ihre Ursprünge lie-
ßen sich ganze Folianten schreiben, und selbstverständlich sind
diese Folianten auch geschrieben worden. Über ihre wechsel-
volle Geschichte wissen wir ebenfalls allerhand, über ihr perio-
disches Hervor- und Zurücktreten und über den Zusammen-
hang dieser Schwankungen mit dem materiellen Prozeß der
Geschichte. Die Idee der Apokalypse hat das utopische Den-
ken seit seinen Anfängen begleitet, sie folgt ihm wie ein Schat-
ten, sie ist seine Kehrseite, sie läßt sich nicht von ihm ablösen:
ohne Katastrophe kein Millenium, ohne Apokalypse kein Pa-
radies. Die Vorstellung vom Weltuntergang ist nichts anderes
als eine negative Utopie.

Aber auch der Untergang ist nicht mehr das, was er einmal
war. Der Film, der in unseren Köpfen und noch viel hem-
mungsloser in unserem Unbewußten läuft, unterscheidet sich
in vieler Hinsicht von den alten Träumen. In ihren historischen
Ausprägungen war die Apokalypse eine ehrwürdige, ja gehei-
ligte Vorstellung. Die Katastrophe, mit der wir umgehen (oder
vielmehr: die in uns umgeht) ist dagegen eine ganz und gar
säkularisierte Erscheinung. Wir lesen ihre Zeichen von den
Häuserwänden ab, an denen sie, ungelenk gesprüht, über Nacht

185
 
Annotationen