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DAS PHÄNOMEN PICASSO

I

Von einem Phänomen sprechen wir, wenn etwas erstmalig als Er-
scheinung sichtbar wird, das uns erstaunlich und bedeutsam anmutet,
weil wir seine Bedingtheiten, ursächlichen Hintergründe nicht ken-
nen, es auch als Erscheinung mit Bekanntem nicht in Übereinstim-
mung zu bringen wissen. In seiner Ungewohntheit und Ungewöhn-
lichkeit erschreckt uns das Phänomenale; zugleich sind wir geneigt,
es irgendwie als ein Zeichen zu nehmen. So geschah es in früheren
Jahrhunderten mit unerwarteten Himmelserscheinungen; sie ver-
loren ihren phänomenalen Charakter erst, wenn sie bekannt, be-
rechenbar und verständlich gemacht worden waren. Daß wir etwas
als Phänomen ansprechen, bedeutet keineswegs immer ein positives
Werturteil über dasselbe; zum Beispiel können uns auch verbreche-
rische Persönlichkeiten und ihre Taten phänomenal anmuten. Ein
Phänomen stellt in seiner Weise Papst Alexander VI. dar, der Ver-
brecher auf dem Papstthron; ein Phänomen war Napoleon I., viel-
leicht auch Hitler; ein Phänomen bildet aber auch das unerwartete
Auftreten großer Menschenfreunde oder gar Heiligen.

So ist es weder ein Bekenntnis für ihn noch gegen ihn, wenn wir
auch den modernen Maler Pablo Picasso als eine Art von Phänomen
ansprechen. Es soll damit nur gesagt werden, daß in dem künst-
lerischen Wirken dieses Mannes jene Merkmale des Erstmaligen, zu-
nächst Unerklärlichen, weil Unberechenbaren, aber auch der Be-
deutsamkeit enthalten sind. Offenbar empfinden sein Dasein nicht
nur wir in diesem Sinne; denn von allen Künstlern der modernen

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