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Heidelberger Volksblatt (1) — 1868

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Nr. 1 - Nr. 6 (10. Juni - 27. Juni)
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Blut in mür rollen und wogen fühle: da tritt mir erſt,
das ganze, volle Glück des Lebens, des irdiſchen Ath-

geweſen, geſtorben ſein, um das Glück zu fühlen, das
mit jedem Atheinzug unſre Seele umſpielt. Und für
das Leben, für den Genuß des irdiſchen Seins bin ich ein
Millionär geworden, denn ich habe den Werth jener köſt-
baren Perlen, die aus dem dunkeln Meere der Zeit
herauftauchen und die man Stunden nennt, als gött-
liches Geſchenk kennen gelernt; aber ich bin doch ein
Bettler, dennnich verlor. — ein Herzʒ
Mein Freund bebte. Ich mußte ihm Ruhe gönnen,
bis er die Kraft beſaß fortzufahren. „Ich genas lang-
ſam. Mein erſter Ausgang, 5 Monate nach meinem
Unfall, war zu meiner Braut. Ich fand ſie allein am
Fenſter ſitzend, das Clavier war vor ihr aufgeſchlagen.
Ihren Liedern hatte ich ſo oft und gern gelauſcht, un-
ſere reinſten, glücklichſchönſten Stunden waren die, in
denen die Muſik auf ihrem Melodieenmeer uns zu
ferneren Zielen ſchaukelte. Mein Bild mochte ihr an
der Seele vorüberziehen, die Muſik hatte ſie in ihre
Sphären⸗Geiſterwelt aufgenommen, und als ſie auf-
blickte und mich ſah, bebte ſie, wie von unſichtbaren
Mächten geſchüttelt, zuſammen. Sie konnte ſich kaum
erhebennrrnn
„Wanda!“ ſagtetich mit bebender Stimme, „Wanda,
ich lebe! ich war nicht todt!“ 7—1 ö
Sie ging auf mich zu, drückte mir die Hand und
ſprach verlegen: „Ich habe mich in eine andere, über-
irdiſche Welt hinein gelebt und jede Faſer meines
Herzens hat ſich losgeriſſen von dem Leben, um ganz
Dein, ewig Dein zu ſein, und meine Seele findet den
Weg zum alten Glück nicht mehr
65Geliebte!“ entgegnete ich erſchreckend, wir wollen
leben, ich will das neue Geſchenk mit einem neuen
Muthe genießen, ſei wieder mein, mein Alles!“ — Ich
wollte liebevoll auf's Neue auf ſie zueilen, ſie wandte
ſich, ich ſah es, ſchaudernd von dem aus dem Grabe Er-
ſtandenen ab, ſie fiel ſaſt in Ohnmacht. Als ſie ſich
erhohlt, ſah ich wohl, das geheime Grauen vor Einem,

der für immer geſchieden, konnte ſie trotz innerer

Seelenkämpfe nicht überwinden Ich fühlte, das Band
war zerriſſen. O mein Gott, wie habe ich gelitten...
Ich reiſte ab mit einem Herzen, das trotz aller neuge-
wonnenen Lebenskraft ſich nun erſt recht nach dem
Tode ſehnte, der kalt und furchtbar ſchon mich ange-
weht. Das Leben, die Liebe, ſelbſt ich bin mir wie
eine fürchterliche Lügeeo»W..
„Der Freund weinte in meinen Armen. „Wie lange
irrſt Du ſeitdem in der Fremde?“ fragte ich.
„Beinahe ein JahrrI. 1
„So laß uns noch einmal hin zu Wanda, noch
einmal die Frage an ihr Herz richtenn.¶.
Lillge ſchüttelte wehmüthig verneinend das Haupt.
ö „Du kennſt noch nicht dieſen Wunderbalſam der
Zeit, wenn Du nicht fühlſt, daß ſich auch die aufge-
regten Wellen des Gemüths Deiner Braut legen kön-
nen! Laß uns hinpilgern, lauſchen auf den erſten
Sonnenſtrahl, der nach dieſer Grabesnacht von Neuem

heraufflammt!,
wandellos ihre
mens und Seins vor die Seele. Wir müſſen kränk
in meinen Vorſchlag.

„Bringen Sie Heinrich mit

Und ey komint zicher wie die Sonne
Bahn geht! Komm, komm, mein Freund!“
Nach manchem Hin⸗ und Widerreden willigte Lillge
Wir reiſten in einigen Tagen

ab nach dem Wohnorte ſeiner Braut... Wir fan-
den ſie gefährlich erkrankt. Dem Freunde ihres einſt

ſo theuern Heinrich öffnete ſich die Thür. Ich fand
eine zarte, gebrochene Frauengeſtalt. Auf ihrem Ant-
litz lag ein tiefer Hauch der Schwermuth. Sie ſtreckte
mir eine feine, ſeeliſche Hand entgegen und ſprach:
mit! ... Ich ſehne mich,
ihm noch einmal ins Auge zu ſchauen; ich habe viel
gegen ihn verſchuldet.“ 2——
Ich eilte, den Freund zu holen. Welch ein Wie-
derſehen! Wanda's Seele ſchien ſich neu zu beleben;
ſie richtete ſich im Bette auf. Ein warmer Händedruck
verſöhnte, was ein unnennbares Etwas der menſch-
lichen Seele verbrochen. ᷣ
„Ich habe Dir wehe gethan,“ ſprach ſie mit er-
höhter Stimme, als ich vor Dir zurückſchreckte; aber
das Schickſal hat ſich an mir gerächt. Der Tod, der
mir in ſeinem Schein ſo fürchterlich geweſen, ſpann
leiſe ſich in mein Herz. Er iſt nicht ſo ſchaurig, ich
ſelbſt blicke ihm ruhig jetzt ins Auge. Die Griechen
haben Recht:; es iſt ein Genius mit geſenkter Fackel.
Weil ich den Tod ſo verabſcheut, den himmliſchen Tod,
mußte ich ihn lieben lernen. Ach, Heinrich, unſer Le-
ben iſt das Blühen zum Tode! Langſam keimt die
Blume aus uns empor, aber immer höher, immer
mächtiger entfaltet ſie ſich, und wenn ſie eben ihren
Kelch erſchließt und ihren ganzen Duft und Schmelz
aufthut, dann entrücken uns unſichtbare Hände dieſer
Welt. Heinrich! Du ſandeſt den Weg zum Leben wie-
derz;, ich hätte Dich, als eine Gottesoffenbarung bewun-
dern, Dich verehren ſollen, und ſchreckte vor Dir zu-
rück. Vergieb, vergieb! Dir küßte er nur leiſe die
Lippen, der freundliche Genius, und Deine Liebe für
mich, entwand ſich ihm, mir aher legte er die vernich-
tende Hand auf's Herz, und ich muß ihm folgen, auf
immer.“ —. .
Wir widerſprachen; der Vater tröſtete. „Nein,
nein, Du darfſt nicht ſterben!“ rief der Freund mit
thränenerſtickter Stimme. ů
„Doch, doch!“ ſagte ſie. Sie ſank vor Schwäche
und Erſchöpfung einige Augenblicke zurück, und ſanft
war ſie entſchlummert. ö
Erſt nach einer längern Trauer kehrte der Schein-
todtgeweſene ins volle Leben zurück. Er blickte zwar
voll Wehmuth auf die Vergangenheit, voll Schmerz
auf die dahingegangene Geliebte, aber das Wunder
ſeiner Rettung war von der Hand eines gütigen, in
unerforſchliche Räthſel ſich hüllenden Geſchicks ganz erſt
jetzt vollzogen.
Wanda's Unvermögen, den vom Tode erſtandenen
Freund wieder mit alter Liebe umfangen zu können,
iſt ein ſeltſames Geheimniß der Natur und des Herzens.
 
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