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Heidelberger Volksblatt (1) — 1868

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Nr. 34 - Nr. 42 (3. Oktober - 31. Oktober)
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ſie ſo ſchön, 10 hertlich diet Welt, dieſe Natur, und
er ſehnte ſich unendlich hinaus in Berg und. Wald, in
Feld und Wieſe. Wie lange hatte er nun ſchon nichts
mehr von ihr geſehen als einen armen kleinen Strei-
fen Himmel zwiſchen den hohen, düſtern Häuſer n, und

wie lechzte ſein Herz nach einem Athemzuge in friſcher,

freier Luft! Aber dennoch wollte er alledem gern für
Ddieſes Leben entſagen und ein Sträfling bleiben bis
zu ſeinem Ende, wenn es ihm nur vergönnt war, in
Norrmann's Nähe bleiben zu dürfen. Wenn er nur
nicht hinausgetrieben wurde in die große, fremde Welt,
wo er Niemand liebte und von Niemand geliebt wurde.
Er hatte nicht nöthig, um Arbeit zu betteln wie Fah-
renwald; wenn ſeine Strafzeit vorüber war, ſo hatten
die Zinſen ſeines Wenmögene die Schulden getilgt, welche
er als Fürſt auf ſich geladen und er konnte ſie ſogleich
wieder beziehen, auch durf'e er hoffen, von dem Er-
Itrage ſeiner⸗literariſchen Arbeiten allein leben zu kön-
nen, da die erſte derſelben ſchan ſo großen Erfolg ge-
habt. hatte.
wenn er fortmußte von Norrmann, von — ach, von
dieſer ganzen, ihm ſo theuern Familie, wie konnte er
dann leben? Er ſchauderte bei dieſem Gedanken; doch
ſagte er ſich bald, es ſei ja bis dahin noch eine Zeit-
lang und es wäre unnütze Selbſtquälerei, ſich ſchon
jetzt darüber zu beunruhigen. Hatte er doch viel
näher liegende Sorgen! Norrmann war abgereiſt, ohne
ihm den Zweck ſeiner Reiſe nach der Reſidenz mitzu-
theilen. Allein er konnte wohl denken, daß es um des
Buches willen geſchah, er hatte faſt die Gewißheit, daß
der Oberinſpektor zum Könige beſchieden war, denn er
hatte ja geſehen, wie derſelbe das feinſte Vifitenkoſtüm,
den Frack, die ſeidenen Strümpfe und den Chapeau
claque, die er ſo ungerne trug, eingepackt hatte Wo-
zu anders, als zum Erſcheinen vor einer der höchſten
Perſf ſonen? Und wenn nun das Buch des Königs Miß-
ſallen erregt hätte? Dann fiel daſſelbe auf Norrmann,
der den eigentl ichen Verfaſſer gewiß nicht verrieth,
wenn er eine Mißſtimmung gegen denſelben bemerkte.
Aber er kennte dies ja auch im günſtigſten Falle nicht
thun, denn wie durfte er geſtehen, daß er einem Sträf-
ling erlaubt, ſolche Arbeiten anſtatt der im Zuchthauſe
angeordneten zu vollbringen. und wenn der kühne
Norrmann es nun doch that, was würde der König
dazu ſagen? Der Oberinſpektor konnte dadurch von
ſeinem Poſten kommen und er, der ihn ſo unausſ ſprech-
lich liebte, hatte dies verſchuldet!
Dieſe Gedanken qvälten Michailowitſch nach der
Abreiſe ſeines Beſchützers, er war daher ſehr ſtill und
trübe geſt'mmt und wenn er auch die tauſenderlei klei-

nen Dienſtleiſtungen keineswegs vergaß oder unterließ,‚

an die er die Moller'ſche Familie,»beſonders aber An-
konie ſo gern gewöhnt, ſo übte er dieſelben doch heute
nicht mit jener liebenswürdigen Anfmerkſamkeit, welche
ief ſsonſt eigen war. Hierüber fühlte ſich Antonie
tief gekränkt. Abends fand er ſie allein.
„O liebes Fräulein, Sie ſehen wieder recht lei-
dend aus und haben wohl gar geweint!“ ſagte Mir
chael zu ihr tretend mit herzlicher Theilnahme.

Sie nicht ſo mir, Antonie!

Wenn er aber nach Rußland zurück mußte,

ſchönes Haar,
an ſeinem todtenbleichen Antlitz. nieder.
Beiden einige Minuten an einander, dann plötzlich

„Geweint!“ wieberholte ſie höhnif j „urd hült
ich keine Urſache dazu? Wiſſen Sie⸗ Richt, daß Sie
mich mit Ihrer Kälte Tode martern, und Sie wei-
den ſich noch an meinen Qualen!“
„Antonie!“ rief Michael erſchreaf, „Mäßigen Sie
ſich!“ Die Betroffenheit, in welche ihn ihre Heftigkeit
verſetzt, mochte ſeine Worte etwas hart klingen laſſen.
„Vun,“ rief ſie noch mehr erregt, „Sie können es
ja dem Vater ſagen; vielleicht mißhandelt er mich noch
einmal um Ihretwillen; dann ſind Sie für immer
von mir befreit!“
Michael fiel vor dem Sopha auf die Knie, preßte
Antoniens Hand an ſeine Lippen und rief mit ſchnei-
dem Wehelaut:
„Ach, um Gottes Barmherzigkeit willen, ſprechen
Haben Sie Erbarmen mit
mit einem Unglücklichen, der ja wehrlos in Ihren

Händen iſt.“

„Wehrlos?“ rief ſie aus. „Haben Sie recht, ſo
ſchonen Sie mich nicht, vertheidigen Sie ſich! Strafen
Sie mich.“
„Antonie, Sie vergeſſen, daß ich Sie nicht ſtrafen
darf; denn welch ein Recht hierzu hat der Sträfling?“
„Michailowitſch!“ ſchrie ſie wahnſinnig. „Sagen
Sie das noch einmal und ſo wahr ein Gott iſt, ſtoß
ich mir dies Meſſer vor Ihren Augen in's Herz.“
Mit flammenden Blicken ſchwang ſie das von dem
gedeckten Tiſche aufgeraffte Mefſer, er griff mit beiden

Händen in daſſelbe und rang urit ihr darum, bis ſein

Blut auf ihre Decke niederrieſelte.
Meſſer fahren.
„Gott, Gott, ich habe Sie verwundet!“ jammert-
„Wie das blutet!“
„Es iſt nicht ſchlimm, beruhigen Sie ſich! bat
Michael, vor Aufregung und Schmerz einer Leiche ähn-
lich. Antonie aber ſog das Blut aus der Wunde und
verband dieſelbe mit ihrem Taſchentuche. Er küßte
ihre Hände und fragte mit ſeinem weichſten Schmei-
cheltone:
„Darf ich das Tuch behalten, Tony?“
Ohne alle Faſſung ſchlang ſie beide Arme um ſei-
nen Rouf und preßte denſelben an ihre Bruſt.
„Ja, ja! Doch vergieb! vergieb!“ flehte ſie.
Einen Augenblick ließ er ſein Haupt an ihr ru-
hen, denn es war wie eine wunderſelige Ohnmacht

Jetzt ließ ſie da

ſie.

über ihn gekommen, dann aber riß er ſich los.

Vnnglückliche, was thuſt Du?“ rief er ſich auf-

raffend und ſtürzte der Thür zu. Ihr Angſtruf aber:

„Micharl, kannſt Du mich tödten?“ zog ihn zurück;
abermals fiel er auf die Knie neben ihr nieder. An-
toniens holdes Geſicht ruhte auf ſeinem Haupte, ahr
das ſich in der Erregung gelöſt, hing
»So ruhten

ſchrack Antonie zuſammen:
„Die Mutter kommt!“ flüſterte ſie. „um Gottes-
willen verrathe uns nicht, Geliebter!“
Michael fand die Kraft in ſich, ruhig und gefaßt
vor der eintretenden Mutter zu erſcheinen, die allein
 
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