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ſeinem Vord änger war er das Muſter (ines hochbegab-
ten wie vom beſten Willen beſeelten Herſchers und wit
einem Woerte der Träger eines neuen goldenen Zeit-
altters. In der That wußte der Telegraph denn auch
kaum alle die großartigen Reformen, die in Konflanti-
nopel unter der Asgide des neuen Herrſchers in's Werk
geſitzt wurden oder werden ſollten, rechtzeitig zu melden.
Kein Geblet, ouf dem nicht eine v. llſtändige Umgeſtal-
tung angekündigt wurde. Eine Volksvertretung, hieß
es, werde in's Leben treten, die wenn arch nach der ge-
ſchichtlichen Entwick-lung der Türkei nur mit mäßigen
Befugniſſen ausgeſtattet, dech immerdin einen nilbeß im-
menden Einfluß auf die Geſetzgebung erhalten ſollte.
Statt der kisherigen lüderlichen Finanzwirthſchalt, die
aus der vor dem Krimkriege noch ſchuldenfreien Türkei
ein bis zum höchſten Uebermeaß belaſtes Land geſchaffen,
ſollte eine geregelte, geſunde Verwaltung di ſes hochwich-
tigen Theils des Staatsorganismus — wie arch aller
übrigen — einrtreten, Daneben ſprach man von einer
völligen Umgeſtallung des Schulweſens, weiter, was von
ganz beſonderer Bedeulung, von der Gleichſtellung der
chriſtlichen und türkiſchen Bewohner des Reichs und der
Gewährung vollkemmener Religionsfreiheit — kurzum,
das ganze Gebiet des öffentlichen Lebens, Verfaſſung,
Verwaltune, Rechtspflege, Ur terrichtsweſen u. ſ. w ſahen
Reformen entgegen, die die Türkei mit tinem Schlage
in den Kreis der europäiſchen Culturſtaaten verſetzen ſoll-
ten. Sultan Murad ſelber, ver kündete man weiter, gehe
auf dem Reformwege Allen voran, zumal was die Be-
ſeitigung der Haremswirthſchaſt und die Einſchränkung
der Ausgaben für den Unterhalt der ka ſerlichen Familie
angehe; habe er doch ſofort auf eine Summe ron fünf
und eig halb Million jäbrlicher Einkünfte verzichtet, über-
dies aber deutlich ſeine Abſicht kundgegeben, das entvöl-
kerte Serall ſeinss Vorgängers — dreiundfünfzig Boote
waren zum Trane port von zahlloſen Weiber röthig ge-
weſen — fernerhin leer zu laͤſſen. Nech mehr; man
wußte, daß Murad ror ſeiner Thronbefteigung im Ueb-
ermaß dem Genuß ron Spirituoſen gef:öhnt hatte; ſo-
fort wurde lerichtet, daß er nach ſeiner Erhebung den
ſtrengſten Befehl an ſeine nächſte Umgebung habe ergehen
laſſen, ihm unter keinen Umſtänden geiſtige Get änke zu
verabfolgen, auch wenn er ſie nurch ſo er tſchieden ver-
langen ſollte. Von Natur gut angelegt und von der
hohen Bedeutung ſeiner Aufgabe wie der Schwierigkeit
ſeiner Stellung ganz d urchd rungen, gleichzeitig aber auch
gewillt, ihr im vrollem Maße gerecht zu werden, das un-
gefähr war das Bild, das man von dem neuen Sultan
von Kouſtantinopel aus verbreitete. ö
In Wir klichkeit lagen die Dinge freilich anders, in
Wirklichkeit hatte den alt gewor denen, an zeitweiligen
Ausbrüchen des Cäſarenwahnſinns leidenden despotiſchen
Schwächling nur ein jüngterer abgelöſt, der, entnervt
und zerrüttet vom Haremsleben und andern jahrzehnte-
laungen Ausſchweifungen, in Folge der Er igniſſe, die
ſich unmitt⸗lbar bei und nach ſeiner Erhebung abſpiel-
ten, bald in unheilbare Geiſteskran! heit verfiel. Als
Präſt mtiv⸗Nachfolger namentlich in letzter Zeit von Ab-
dul⸗Aziz nit argwöhniſchen Blicken verfolgt und ſchließ-
lich in enger Haft gehalten, waßte Murad ſeine Todes-
furcht nur in der Weiſe zu beſiegen, daß er ſich wochen-
lang in den färkſten Weinen berauſchte; als er dann
endlich aus ſeiner Haft befreit wurde, glaube er nicht
enders, als man führe ihn zum Tode. Kaum auf den
Thron erkoben, traf ihn der onzebliche Selbſtword ſeines
Vorgängers, ein Ereigniß, über deſſen wirklichen Cha-
rakter gerade er ſich am wenigften einer Täuſchung hin-
gab. Schon jetzt begannen die Wahnideen ſich bei ihm
geltend zu machen; ſie zu vollem Ausbruch zu bringen
kam dann noch am 16. Juni die Er mordunz des Kriegs-
miniſters Hi ſſein Avni Paſcha, grade des Mangzes, dem
er ſeins Erhebung verdankte, und des Miniſters des
Auswärtigen, Radſchid Paſcha hinzu. Ob die klutige
Tragödie vur das Werk einer Privatrache oder ob ſie
aus politiſchen Mohven hervorgegangen war, läßt ſich
gepenn ärtig noch noch nicht beurtheilen; daß ſie aber
auf das ohnehin ſchon kranke Gehirn des Sultans ge-
rodt zu vernichtend wirken mußte braucht wohl nicht erſt
eines Nachweiſes. Schon gegen Ende des er ſtin Monats
ſeiner Regierung war ſein Zuſtand denn auch ein ſo
trauriger, daß ſeine Abſetzung nur noch als eine Frage
von Tagen betrachtet werden konnte. ö
Verſchiel ene Umſtände kamen hinzu, ſie zu beſchleu-
nigen; zunächſt die Thatſache, daß man g'gen Mitte Au-
guſt einer Verſchwörung auf die Spur kam, die den
Sultan mi ſanmnt den Miniſtern bteſeitigen urd den älte-
ſten Sohn Abddol⸗Aziz', Juſſuf Iizedin auf den Thron
irheben wollte. Dazu machte die im Koran niedergelegte,
höchſt geſunde Anſche urng, daß ein Geiſteskranker nicht
Herrſcher ſein Fönne, mehr und mehr ihren Ein fluß gel-
tend. Weiter brängten die immer ſchwierigeren Verhält-
niſſe, in die das Land in Folge des bosniſchen Aufſtan-
des und des ſerbiſchen Kri ges gerieth, dazu, jerer troſt-
loſen Situation (ia Ende zu machen. Und enblich mochte
auch wohl der nochſte Erbberechtigte, Murads Stieſbru-
der, Abdul Hamid, der Diage müde werren und eine
Entſcheidung verlangen. ö
Sie fiel mit dem Schluß des Auguſt. Am 31.
deſſelben meldete ine oſfizelle Dep ſche aus Konſtanti-
nopel mit kurzen Worten, daß, nach dem die Krankheit
St iner kaiſerlichen Majeſtät des Sultan ſich als unheilbar
herausgeſtellt, der legitime Throsfolger urter dem Na-
men Abdul⸗Hamid II. zum K.iſer der Türki preclamirt
worden ſei. ö
Abdul⸗Hameid ift der zweite Sohn Abdul⸗Medfids und
am 22. Soptember 1842 geboren. Seine Erziehung
war die gewöhnliche der türkiſchen Prinzen. Er wie ſein
zälterer Bruder lernten nämlich in izrer Jugend gar
nichts; ihre Launen waren für ihre Umzebung Geſetze,
ſie vertrieben ſich die Zeit mit Sela ven ihres Alters und
hatten die Knaber jahre kaum zurückgelegt, ols ſie in das
Haremleben eingeführt worden, das die Geſuadheit des
ſchwächeren Murad frühzeitig untergrub. Als die bei-
den Brüder zwanzig Jahre alt waren, beſchränkte ſich
ſeinem Vord änger war er das Muſter (ines hochbegab-
ten wie vom beſten Willen beſeelten Herſchers und wit
einem Woerte der Träger eines neuen goldenen Zeit-
altters. In der That wußte der Telegraph denn auch
kaum alle die großartigen Reformen, die in Konflanti-
nopel unter der Asgide des neuen Herrſchers in's Werk
geſitzt wurden oder werden ſollten, rechtzeitig zu melden.
Kein Geblet, ouf dem nicht eine v. llſtändige Umgeſtal-
tung angekündigt wurde. Eine Volksvertretung, hieß
es, werde in's Leben treten, die wenn arch nach der ge-
ſchichtlichen Entwick-lung der Türkei nur mit mäßigen
Befugniſſen ausgeſtattet, dech immerdin einen nilbeß im-
menden Einfluß auf die Geſetzgebung erhalten ſollte.
Statt der kisherigen lüderlichen Finanzwirthſchalt, die
aus der vor dem Krimkriege noch ſchuldenfreien Türkei
ein bis zum höchſten Uebermeaß belaſtes Land geſchaffen,
ſollte eine geregelte, geſunde Verwaltung di ſes hochwich-
tigen Theils des Staatsorganismus — wie arch aller
übrigen — einrtreten, Daneben ſprach man von einer
völligen Umgeſtallung des Schulweſens, weiter, was von
ganz beſonderer Bedeulung, von der Gleichſtellung der
chriſtlichen und türkiſchen Bewohner des Reichs und der
Gewährung vollkemmener Religionsfreiheit — kurzum,
das ganze Gebiet des öffentlichen Lebens, Verfaſſung,
Verwaltune, Rechtspflege, Ur terrichtsweſen u. ſ. w ſahen
Reformen entgegen, die die Türkei mit tinem Schlage
in den Kreis der europäiſchen Culturſtaaten verſetzen ſoll-
ten. Sultan Murad ſelber, ver kündete man weiter, gehe
auf dem Reformwege Allen voran, zumal was die Be-
ſeitigung der Haremswirthſchaſt und die Einſchränkung
der Ausgaben für den Unterhalt der ka ſerlichen Familie
angehe; habe er doch ſofort auf eine Summe ron fünf
und eig halb Million jäbrlicher Einkünfte verzichtet, über-
dies aber deutlich ſeine Abſicht kundgegeben, das entvöl-
kerte Serall ſeinss Vorgängers — dreiundfünfzig Boote
waren zum Trane port von zahlloſen Weiber röthig ge-
weſen — fernerhin leer zu laͤſſen. Nech mehr; man
wußte, daß Murad ror ſeiner Thronbefteigung im Ueb-
ermaß dem Genuß ron Spirituoſen gef:öhnt hatte; ſo-
fort wurde lerichtet, daß er nach ſeiner Erhebung den
ſtrengſten Befehl an ſeine nächſte Umgebung habe ergehen
laſſen, ihm unter keinen Umſtänden geiſtige Get änke zu
verabfolgen, auch wenn er ſie nurch ſo er tſchieden ver-
langen ſollte. Von Natur gut angelegt und von der
hohen Bedeutung ſeiner Aufgabe wie der Schwierigkeit
ſeiner Stellung ganz d urchd rungen, gleichzeitig aber auch
gewillt, ihr im vrollem Maße gerecht zu werden, das un-
gefähr war das Bild, das man von dem neuen Sultan
von Kouſtantinopel aus verbreitete. ö
In Wir klichkeit lagen die Dinge freilich anders, in
Wirklichkeit hatte den alt gewor denen, an zeitweiligen
Ausbrüchen des Cäſarenwahnſinns leidenden despotiſchen
Schwächling nur ein jüngterer abgelöſt, der, entnervt
und zerrüttet vom Haremsleben und andern jahrzehnte-
laungen Ausſchweifungen, in Folge der Er igniſſe, die
ſich unmitt⸗lbar bei und nach ſeiner Erhebung abſpiel-
ten, bald in unheilbare Geiſteskran! heit verfiel. Als
Präſt mtiv⸗Nachfolger namentlich in letzter Zeit von Ab-
dul⸗Aziz nit argwöhniſchen Blicken verfolgt und ſchließ-
lich in enger Haft gehalten, waßte Murad ſeine Todes-
furcht nur in der Weiſe zu beſiegen, daß er ſich wochen-
lang in den färkſten Weinen berauſchte; als er dann
endlich aus ſeiner Haft befreit wurde, glaube er nicht
enders, als man führe ihn zum Tode. Kaum auf den
Thron erkoben, traf ihn der onzebliche Selbſtword ſeines
Vorgängers, ein Ereigniß, über deſſen wirklichen Cha-
rakter gerade er ſich am wenigften einer Täuſchung hin-
gab. Schon jetzt begannen die Wahnideen ſich bei ihm
geltend zu machen; ſie zu vollem Ausbruch zu bringen
kam dann noch am 16. Juni die Er mordunz des Kriegs-
miniſters Hi ſſein Avni Paſcha, grade des Mangzes, dem
er ſeins Erhebung verdankte, und des Miniſters des
Auswärtigen, Radſchid Paſcha hinzu. Ob die klutige
Tragödie vur das Werk einer Privatrache oder ob ſie
aus politiſchen Mohven hervorgegangen war, läßt ſich
gepenn ärtig noch noch nicht beurtheilen; daß ſie aber
auf das ohnehin ſchon kranke Gehirn des Sultans ge-
rodt zu vernichtend wirken mußte braucht wohl nicht erſt
eines Nachweiſes. Schon gegen Ende des er ſtin Monats
ſeiner Regierung war ſein Zuſtand denn auch ein ſo
trauriger, daß ſeine Abſetzung nur noch als eine Frage
von Tagen betrachtet werden konnte. ö
Verſchiel ene Umſtände kamen hinzu, ſie zu beſchleu-
nigen; zunächſt die Thatſache, daß man g'gen Mitte Au-
guſt einer Verſchwörung auf die Spur kam, die den
Sultan mi ſanmnt den Miniſtern bteſeitigen urd den älte-
ſten Sohn Abddol⸗Aziz', Juſſuf Iizedin auf den Thron
irheben wollte. Dazu machte die im Koran niedergelegte,
höchſt geſunde Anſche urng, daß ein Geiſteskranker nicht
Herrſcher ſein Fönne, mehr und mehr ihren Ein fluß gel-
tend. Weiter brängten die immer ſchwierigeren Verhält-
niſſe, in die das Land in Folge des bosniſchen Aufſtan-
des und des ſerbiſchen Kri ges gerieth, dazu, jerer troſt-
loſen Situation (ia Ende zu machen. Und enblich mochte
auch wohl der nochſte Erbberechtigte, Murads Stieſbru-
der, Abdul Hamid, der Diage müde werren und eine
Entſcheidung verlangen. ö
Sie fiel mit dem Schluß des Auguſt. Am 31.
deſſelben meldete ine oſfizelle Dep ſche aus Konſtanti-
nopel mit kurzen Worten, daß, nach dem die Krankheit
St iner kaiſerlichen Majeſtät des Sultan ſich als unheilbar
herausgeſtellt, der legitime Throsfolger urter dem Na-
men Abdul⸗Hamid II. zum K.iſer der Türki preclamirt
worden ſei. ö
Abdul⸗Hameid ift der zweite Sohn Abdul⸗Medfids und
am 22. Soptember 1842 geboren. Seine Erziehung
war die gewöhnliche der türkiſchen Prinzen. Er wie ſein
zälterer Bruder lernten nämlich in izrer Jugend gar
nichts; ihre Launen waren für ihre Umzebung Geſetze,
ſie vertrieben ſich die Zeit mit Sela ven ihres Alters und
hatten die Knaber jahre kaum zurückgelegt, ols ſie in das
Haremleben eingeführt worden, das die Geſuadheit des
ſchwächeren Murad frühzeitig untergrub. Als die bei-
den Brüder zwanzig Jahre alt waren, beſchränkte ſich