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Heidelberger Zeitung (46) — 1904 (Juli bis Dezember)

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Nr. 177 - 203 (1. August 1904 - 31. August 1904)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14241#0373

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Grstes Blatt

Movtaz, 2L. Aagllß 1SS4.

Erscheint täglich, SonntagS ausgenommen. PreiS mit Familienblättern monatlich 50 Pfg. in's HauS gebracht, bei der Expedition und den Zweigstatlonen abgeholt 40 Pfg. Durch die Post

bczogen vierteljährlich 1,35 Mk. auSschließlich Zustellgebühr.

AnzeigenpreiS: 20 Pfg. für die Ispaltige Petitzeile oder deren Raum. Reklamezeile 40 Pfg. Für hiesige Geschästs- und Privatanzeigen ermäßigt. — Für die Aufnahme von Anzcigen
an bestimmten Tagen wird keine Verantwortlichkeit übernommen. — Anschlag der Jnserate auf den Pla kattafeln der Heidelberger Zeitung und den städtischen Anschlagstellen. Fernsprecher 82.

Die ohnmächtige deutsche Sozialdemokratie.

Aus dem inlernationalen Sozialistenkongretz in
Amsterdam hat der französische Sozialdeniokrat Jan-
tds der deutschen S o z i a l d e m o k r a t i e ein-
wal einen Spiegel vorgehalten. Spieglein, Spieglein
an der Wand, welches ist die stärkste Partei im deutschen
Land? Und das Spieglein hat geantwortet: An Zahl
die stärkste ist die Sozialdemokratie, doch schwach und
ohnmächtig, weil ohne Diplomatie.

Und was hat Bebel darauf gesagt? Wir wissen, datz
dnr ohnmächtig sind, wir werden erst mächtig sein, wenn
ivir zu unseren drei Miüionen Stimmen noch weitere
dier Millionen angeworben haben.

Ein herrlicher Ausblick sür die deutsche Sozialdemo-
kratie! Erst prophezeit Vebel mehrmals den Kladdera-
'datsch für das Ende des 19. Jährhunderts und nun ver-
"legt er ihn an das Ende des nächsten Jahrtausen-ds, denn
srüher wird die Sozialdemokratie die weiteren vier Mil-
lionen Wähler schwerlich zusammenbringen, hat man
doch bei den Nachwahlen zum Reichstag schon merken kön-
ven, daß die sozialdemokratische Flut ihren Höhepunkt
erreicht hat, daß es jetzt langsamer geht, ja daß Rück-
Wäge nicht ausgeschlossen sind. Jnzwischen aber soll die
sozialdemokratische Wählerschaft sich mit Worten begnü-
tzen. „Vor das Schlotz ziehen" können wir doch nicht, sagt
Äebel, und mit bürgerlichen Parteien so fügt er hinzu,
ivollen wir nicht zusammenarbeiten. Also bleibts dabei,
s>ie Sozialdemokraten kritisieren und lassen DeutschlaNd
legieren wie es ihnen nicht gefallt.

Jn der bengalijchen Beleuchtung durch die Redekunst
bon Iaures ist -die Schwäche der Taktik der Unentwegten,
die in der deutschen Sozialdemokratie heute noch die
Herrschaft haben, in ihcer ganzen Kläglichkeit zu Tage
getreten. Ja noch mehr: Gegenüber den Erfolgen der
sranzösischen Sozialdemokraten, die Iaures aufzählen
konnte, gewinnt man den Eindruck der totalen Unfähig-
keit der deutschen Sozialdemokratie in allem, was die
Ausnutzung der parlamentarischen Macht durch ihre
Führer anbetrifst. Im Schweiße ihres Angösichtes be-
vrbeiten ihre Agitatoren die Wähler, Versammlung über
Dersammlung wird äbgchalten, Millionen von Flug-
dlättern werden verbreitet, Eisenbähn, Zweirad und Schu-
sters Rappen in den Dienst der „guten Sache" gestellt,
Und wenn die Partei dann mit 86 Man'daten als zweit-
stärkste in den Reichstag cinzieht, dann wisscn ihre Führer
biit ihrer Macht nichts anzufangen, dann war die ganze
Ärbeit für die Katze.

Ob die sozialdemokratischen Massen sich das noch lange
Lefallen lassen wevden?

Und dabei sagt Bebel selbst, die Monarchie sei in man-
chen Stücken besser als die Repüblik. Sie kann danach
doch nur ein theoretisches, kein praktisches Hindernis sür
die Mitarbeit der deutschen Sozialdemokratie bilden.
klnd das Bürgertum der Monarchie, so sehr er es an sich
^aßt, stellt Bebel in mancher Hinsicht über das einer Re-
bublik. Aber trotzdem — es geht nicht: Die heiligsten
Tefühle des Herrn Bebel würden verletzt, wenn die
s'eutsche Sozialdemokratie ihre Taktik einer Revision

unterzöge. Fiür sekne Gefühle hat Bebel in Dresden ge-
kämpft und gesiegt, für sie hat er dasselbe in Amsterdam
getan. Es bleibt alles beim alten.

Ein wehmütiges Wort haben wir in den letzten Ta-
gen da und dort gehört: B e b e I, der ewig junge, wird
alt; seine Leidenschaft lodert noch ebenso mächtig wie
ehedem, äber sein Kopf ist den Anforderungen einer neuen
Situation nicht mehr gewachsen. Bebel ist auf dem
Standpunkt des Agitators, als welcher er Großes geleistet
hat, stehen geblieben; er hat die Sozialdemokratie an
die Schwelle zur Macht geführt, aber er ist nicht imstande,
diese Schwelle zu überschreiten, und so bleibt seine Partei
zur Ohnmacht verurteilt, wie ihm das Jaures so deutlich
vorgchalten hat.

Da war Windhorst doch ein anderer Mann! Trotzdem
er mit Welfen und Polen arbeitete, was ungefähr gleich-
bedeutend ist mit den replrblikanischen und internationa-
len Spekulationen der Sozialdemokratie, war er doch
elastisch genug, den richtigen Augenblick zu ergreifen rmd
das Zentrum in den Sattel zu heben. Jetzt sitzt es darin
fcst und halt die Zügel stramm, und wenn man fragt:
Wohin geht die Reise? Dann scharrt der „kluge Hans"
dreimal mit dem Vorderhuf, um damit auszudrücken:
Nach R o m.

Ja, Bebel wird alt und er ist kein Windthorst. Sein
Sieg in Amster-dani war nur noch ein mühsamer. Nur
mit Stimmengleichheit fiel der Antrag, welcher aus der
Dresdener Resolution die ausgesprochene Verurteilung
aller revisionistischen Versuche u. die Brandmarkung ihrer
Vertreter herauslassen wollte. Und zur Umänderung
des Wortes „verdammt" der Dresdener Resolution in
„zurückweist" mußten sich sogar die Anhänger der letz-
teren verstehen. So war der Sieg ein Pyrrhussieg, und
die Nevision ist trotz alledem auf dem Marsche. Die Ent-
wicklung läßt sich nicht aufhalten, auch durch Bebel nicht.
So kann es komnien, daß Bebel eines Dages kopfschüt-
telnd nnd gekränkt findet, die Zeit verstehe ihn und er die
Zeit nicht mehr.

Der nächste internationale Sozialistenkongreß wird
im Jahre 1907 in Stuttgart abg-ehalten werden.
Der Kampf wird sich also in drei Jahren auf süddeutschem
Boden erneuern. Daß innerhalb der internationalen So-
zialdemokratie weitergekämpft wird, darüber kann man,
wenn man die Berichte ans Amsterdam gelesen hat, nicht
im Z-weifel sein.

Deutsches Reich.

— Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" nimmt
zn den äbfälligen Preß-Aeußerungen, daß die Verlust-
liste der in den Gefechten in S ü d w e sta f r i k a gefal-
lenen und verwundeten U n te r o f f i z i e r e und
Mannschaften nicht gleichzeitig mit den Namen
der Offiziere bekannt gegeben worden seien, Stellung und
erklärt, daß die Ausstellung der Mannschastsverlüstlisten
viel mehr Zeit in Anspruch nehme, als dies Lei Feststel-
Inng der Namen der Offiziere der.Fall ist. Der Komman-
dant der südwestafrikanischen Schutztruppe sei am 18.

August zur telegraphischen Einsendung der Bevlustlists
ange-rviesen wovden.

Ka s s e l, 20. August. Die Parade, welche der
Kaiser über die hiesige Garnison abhielt, dauerte eine
halbe Stunde. Der Parade selbst widmete der Kaiser
nur wenige Worte. Seine Ansprache an die Offiziere
hatte vielmehr den o sta s i a t i s ch e n Krieg von sei-
ner rein militärischen Seite zum Ge-genstaüd. Der Kaiser
verbreitete sich eingehend über die Erfahrungen
mit den einzelnen Waffengattungen im russisch-japani-
schen Krieg, die Nutzbarmachung dieser Erfahrungen für
unser Heer und die Lehren, welche sich für die Taktik und
Strategie aus dem bisherigen Verlauf der Kämpse um
Pürt Arthur und in der Mantschurei ziehen lassen.

Baden.

Karlsruhe, 21. August. Das Grotzher-
zogspaar hat sich während seines mehrwöchigen Auf-
enthalts in Engadin ausgezeichnet e rhol t. Wie der
„A. Z." von einem Augenzeugen, der in den letzten Ta-
gen wiederholt Gelegenheit gehabt hat, den Grvßherzos
und die ' Großherzogin in unmittelbarer Nähe zu sehen
und zu sprechen, mitgeteilt wird, erfreuen sich die höchsten
Herrschaften der besten Gdsundheit und es wird versicherch
daß der Großherzog, der in nächster Zeit seinen 78. Ge°
burtstag begeht, schon seit Jähren nicht mchr so frisch
und rüsüg ausgesehen habe, wie gerade jetzt. Daß er sich
nach wie vor die größte körperliche Schonung auferlegen
muß — auf dringenden Wunsch der Aerzte —, ist wohl
selbstverständlich; und es erscheint daher wohl begreiflickn
daß er in letzter Zeit wioderholt den Erbgroßherzog be°
auftragt hat, an seiner Stelle die Honneurs zu über-
nehmen. Zum großen Bedauern der proteftantischen
Kreise, speziell in der Psalz, ist der Großherzog auch ver-
hindert, am 21. August der Einweihung der Protesta-
tions-Gedächtniskirche in Speyer anzuwohnen. Dem Ko-
mitee, das dem Großherzog die Einladung übermistelt
hatte, ließ er „die wärmsten Glückwünsche zur Vollen-
dung der -als evangelisches Dankesdenkmal erbauten
Kirche aüssprechen und die Versicheriing abgeben, daß
er an dem für unsere Glaubensgemeinschaft bedeutsamen
Werke aufrichtigen Anteil nehme."

Ausland.

Frankreich.

Paris, 20. August. Wie aus Clermont-Ferrand
berichtet wird, hat heute früh die SchIießung des
K l o st e r s der U r s u I i n e r i n n e n im Ambert statt-
gefunden. Da man ernste Ausschreitungen befüvchtete,
war das Kloster seit gestern Abend von Mannschaften des
115. Jnf.-Regts. umstellt worden. Nußerdem waren 80
Gendarmen der Umgegend ausgeboten. Nachdem der
Eingang des Klosters gewaltfam geöfstict Wurde, begab
sich der Friedensrichter ins Jnnere und forderte die im
Hofe versammelten Ursulinerinnen auf, das Kloster so-
fort zu verlassen. Die Schwestern kamen der Aufforöe-
rung nach. Angesichts der aufgebotenen Militärmacht
beschränkte sich die auf der Straße versammelte Menge
darauf, Hochrufe auf die Schwestern aüszubringen.

Kleine Zeitung.

— WieSbaden, 20. August. Jn der Nähe der Eisenbahn-
siation Chausseehaus ereignete sich etn schwerer Auto-
diobilu nfall. Nach Eintrcten der Dunkclheit kain am
Mittwoch Abend in rasendem Tcmpo cin mit sieben Personen,
ätvei Herren, zwei Damen und drei Kindern besetztes Auto-
dlobil die von der Hohenwurzel stell abfallende Straße und
rannte mit solcher Gewalt gcgen einen Grenzstein, daß das
Fahrzeug auf das Bahngleise flog. Während fünf Personen
Mschemend unverletzt blieben, wurden der Besitzer und Len-
ker des Automobils, A. Schneider-Köln und ein Ver-
svandter dieses Herrn, so schwer verletzt, daß man bei beiden
5ür das Leben fnrchtet.

— Der „kluge HauS" entlarvt. Der „N. Fr. Pr."
*Rrd aus Berlin berichtet. Die Angelegenheit des „klngen
Hans", des Pferdes, das angeblich lesen und rechncn kann,
ist jeyt durch einen Bekannten des Herrn v. Ostcn dcm
der Verlanf dieser Sache zu bnnt schien, aufgeklärt. Herr
d- Osten und Herr Schilling, die nbrigens, merkwürdiger-
^eise bei den Vorführungen immer dieselbc Tracht, Jagd-
üppe und überhängcnden grauen Schlapphnt tragen, hatten
^ethodischen Kontrolversuchen bisher stets Widcrstand ent-
^gengesetzt. Einem Rittmeistcr wnrde cndlich gestattet, dem
^-ier eine Frage nach 1 -j- 3 vorzulegen. Der Gaul ver-
'ogte, Das Experiment gelang sofort, weim die Herren
Aü der Stallbursche anwesend waren. Dieser gab eincm
^itarbeiter dcr Bcrlincr „Diorgenpost" unvorsichtigerweise
s'sk Erklärung: „Der „kluge Hans" bin ick eigent-
i'ch. Wenn ick de Oogen niederschlagen dhue, denn i

trampelt det Vieh so lange, bis ick de Oogen wieder
uffhebe."

— Bautzeu, 18. August. Die Urheberin der Gerüchte
über wüste Orgien im Restaurant „Fuchsbau" in Bautzen,
an denen eine Anzahl Bautzener Offiziere beteiligt
gewesen sein solltc, hat sich jetzt vor dem hiesigen Land-
gericht zu verantworten. Der Strafantrag ist von dem
Oberst nnd sämtlichen Offizieren dcs 4. Jnfanterie Regi-
ments Nr. 103 gcstellt. Die Anqeklagte, das 24jährige
Dielistmädcheii Martha Külich, hat die nnglaublichsten Dinge
verbreitet. Sie sei von Offizicren in den „Fuchsbau" ge-
lockt worden und. habe dort in Gesellschaft einer jungen Dame,
dcren Brudcr Mitglied des dort verkehrenden Klubs von
Fabrikdircktoren und Offizieren sei, selbst an uusittlichen
Gelagen teilgenomnien. Hierzn habe sie sich anf drei Jahre
kontraktlich verpflichten müssen und dafür monatlich 200 Mk.
erhaltcn. Wenn sie stch nicht habe preisgcben wollen, sei
sie mit der Reitpeitsche geschlagen, anch sei ihr bei einer
solchen Gelegenheit eine Rippe zerbrochen worden. Ein
anderes Mädchen habe man verkehrt aufgehängt, bis es
ohnmächttg geworden sei. Dem Polizeiwachtmeister Günther
gegcnüber leugnete sie anfangs alles ab, gab aber später zu,
daß sie alles crfundcn habe. Zn der Köchin Hofmann,
mit der sie auf dem Bautzener Bahnhof diente, sagte sie
dann spätcr wieder, es sei trotzdem alles wahr. Tie frnhere
Aussage habe sie nur deshatb gemacht, nm die veteiligten
Herren vor Strafc zn schützen. Jn der Gerichtsverhandlung
antwortcte sie auf alle Fragen des Vorsitzenden stereotyp;
„Jch weiß nicht mehr!" Als ihr ihre früheren Erzählungen

vorgehalten wnrden, gab sie zu, diese erfunden zu
haben, ohne eincn Grund für ihre HandlniigSweise anzuführen.
Auf Antrag der Staatsanwaltschafl wurde die Verhandliing
vertagt, um neue Zeugen zu laden und ein ärztliches
Gutachten über den geistigen Zu stand der Kulich
einzuholen. (Die Fantasie der Knlich mag durch Hinter-
treppen-Leklüre stark angeregt wordcn sein. So entstehen
sogenannte „Fälle"! Der Bantzener „Fall" speziell scheint
uns recht lehrreich dafiir zu scin, wic streng sich die
Presse kritikloscr Weitergabe von Hinter-
treppenklatsch enthalten sollte. was leider in
neuerer Zeit dnrchaus nicht in nötigem Maße geschieht.)

— Kiel, 20. August. Der verschwundene Marine»
Zahlmeister G r undt vom Kauonenboot „Habicht" hat
sich in verflossener Nacht dem Kommando der 1. Werst-
Division freiwillig gestellt. Er wurde in das- Gar-
nisonsgefängnis eingeliefert.

— Brnx, 20. August. Ju Ka t a r i ne n b e r g an
der sächsischen Grenze zerstörte ein furcht'barer
Bra^rd vollständig öie lange Gasse, ebenso die Kirche
nnd Schule am Hauptplatz. Bis jetzt konnte der Brand
noch nicht lokalisiert werden.

— Budapcst, 20. August. Der große Marktflecken
Madar ist größtenteils niedergebrannt. 260
Wohnhäuser und 400 Wirtschaftsgebäude sowie große
Mttervorräte sind ein Raub der Flammen geworden.
Drer Personen kamen in >don Flnmmen um.
 
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