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Heidelberger Familienblätter — 1862

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Nr. 90 - Nr. 103 (1. August - 31. August)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43183#0413

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Heidelberger Familienblätter.

Nr. 103. Sonntag, den 31. Auguſt 1862.

Der Sänger auf dem Dach.

Es ritten drei Reiter zum Thor hinaus. Aber ſie machten nicht
etwa ade, ade, ade, ſondern nur einen Spazierritt in die Umgebung der
Reſidenz. Es waren drei Mitglieder der königlichen Oper: der Baſſiſt
Kornemann, der Bariton Olters und der erſte Tenoriſt Miller. Als ſie
ein Stück auf der Landſtraße zurückgelegt hatten, hielt Miller plötzlich
ſein Roß an und ſagte: „Mein Sattelgurt iſt locker geworden. Reitet
immer voraus. Ich hole Euch ſchon wieder ein.“
Der locker gewordene Sattelgurt aber ſah aus wie ein junges hüb-
ſches Landmädchen, das in Begleitung eines etwa elfjährigen Knaben die
Straße daher ſchritt. Darum rief Miller, welcher abgeſtiegen war und
ſcheinbar mit dem Sattelgurt ſich beſchäftigte, dem letzteren jetzt zu:
„Kleiner, halte mein Pferd einen Augenblick am Zügel.“
Der Knabe folgte dem Rufe, und Miller, Kenner und Liebhaber
weiblicher Reize, ging nun mit offenen Armen auf die ländliche Schöne
los, indem er ſie mit Don Juan's Worten anſang:
„Laſſ' in mein Haus Dich führen und ſage freudig Ja!“
Als das Mädchen betroffen zurücktrat und der ihr zugedachten Um-
armung auswich, fuhr Miller ſchmeichelnd fort:
Ei, zu was ſoll das Zieren? Ein Schritt, ſo ſind wir da!“
„Die ländliche Zerline jedoch bewies ſich ſpröder noch als diejenige
in der Oper und verſetzte abwehrend: „Ach, hänſele Er mich nicht und
laſſe Er mich gehen.“
Jetzt verwandelte ſich Don Juan in den Bürgermeiſter von Zar-
dam, welcher anſtimmte:
„Dieſe unſchuldsvollen Mienen! Dieſes Auge wie ein Flambeau!“
Es begann nun zwiſchen dem Sänger und dem Landmädchen ein
Ringen, über welchem aus dem Bündel, welches die Letztere in ihrer
Rechten trug, ein Kuchenſtück zur Erde fiel.
„Röſe! der Kuchen!“ rief der Knabe, welches bisher ein ſtiller Zu-
ſchauer des Ringens geblieben war.
Das gefährdete Backwerk ging ihm über die gefährdete Schweſter,
daher er dem Pferde einen derben Schlag mit der Hand auf den Schen-
kel verſetzte und zugleich deſſen Zügel losließ. Was der Knabe beab-
ſichtigte, geſchah. Das Pferd rannte davon und den beiden Reitern nach.
„Verwünſchter Schlingel!“ rief Miller zornig aus. Dann wendete
er ſich zu dem Mädchen. „Wie heißeſt Du, Kind? Und woher?“ ö
80 Ier von Tripstrille!“ erwiderte der Knabe höhniſch für ſeine
weſter
Ja! wenn Miller nur Zeit gehabt hätte! Aber ſchon erreichte ſeiner
 
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