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Heidelberger Familienblätter — 1864

DOI Kapitel:
No. 64 - No. 76 (1. Juni - 29. Juni)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43185#0281

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Hedelberger Zamiliendlätter.

W 70. Wittvoc, den 15. dm 1864.

Markmann.
Ein Lebensbild aus der Wirklichkeit von Hugo Meyer.
ö CFortſetzung. )

Der Saal war noch leer und nur der Zuhörerraum hinter der Barriere
gefüllt, als die mittelſte Thür ſich abermals öffnete und die Geſchworenen
in langem Zuge eintraten. Gleichzeitig erſchienen die Mitglieder des
Richtercollegiums auf der Eſtrade des oberen Raumes, der Staatsanwalt
nahm ſeinen Platz ein, und der Präſident winkte dem an der Thür war-
tenden Boten.
Eine kleine Pauſe entſtand, dann ſprang an der langen Wand dos
Saales, den Blicken der Geſchworenen gegenüber, eine niedrige, in der
Holzverkleidung des Zimmers kaum ſichtbare Thür auf, und in der engen,
von hoher Schranke umſchloſſenen Bank der Angeklagten erſchien die
Geſtalt eines einzelnen Mannes, deſſen That und Schickſal den Gegenſtand
der heutigen Verhandlung bilden ſollten.
Ein leiſes Geflüſter durchlief die Reihen der Geſchworenen und der
Zuſchauer, während aller Blicke auf dem Angeklagten ruhten, der bis dicht-
an die Schranke vorgetreten war. Er ſtand frei und offen, zu ſeiner vollen
anſehnlichen Höhe aufgerichtet, und überſchaute ruhig, ohne Trotz, aber auch
ohne Befangenheit, die zahlreiche Verſammlung. Seine ſcharf geſchnittenen,
nicht unangenehmen Züge zeigten die eigenthümliche, bleifarbene Bläſſe,
welche eine Folge langer Kerkerhaft zu ſein pflegt, ſeine Hände, welche aus
den Aermeln des dunkeln, bis an das Kinn zugeknöpften Rockes hervor-
ſahen, waren mager und abgezehrt. ſonſt zeigte aber Nichts an dem Manne
von Schwäche und Erſchöpfung. Seine Bruſt war breit und hoch, ſeine
Arme lang, und wie ſich aus den Fingern erkennen ließ, knochig und fehnig;
ſeine Haltung war feſt und ſein ganzer Körper ließ bei vollkommenem
Ebenmaß auf bedeutende Kraftentwickelung ſchließen. Er trug einen vollen,
gutgepflegten Bart, hatte das krauſe Haar aus der breiten, eckigen Stirn
geſtrichen, und hätte in allen Verhältniſſen für einen tichtigen, ſtattlichen
Mann gegolten.
„Der ſieht gar nicht aus wie ein Mörder,“ meinte Einer im Zu-
ſchauerraum.
„Glaub's auch kaum, “ſagte ein Anderer kopfſchüttelnd — „er hat ja
keine Ketten.“ ö
„Und die Mörder haben Alle rothe Haare,“ ſetzte die alte Frau eifrig
19 70 97 „ich hab's bei dem Knecht in Rudow geſehen — wie Dachziegel
o rot
5 pſt!“ ſagten die beiden Bürger unwillig.
Die Klingel des Präſidenten unterbrach die ziſchenden Stimmen und
eine Todtenſtille trat ein. ö
 
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