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Heidelberger Familienblätter — 1865

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No. 65 - No. 77 (2. Juni - 30. Juni)
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Heidelhert ger Familienblätter.

V 74. Freitag, den 23. Zuni. — 1865.

Der Würgengel.
Erzählung einer Thatſache.
Nach dem Engliſchen-

„(Schluß. **

Dieſer Wunſch ging in n Erfüllung. Etwa um ein uhr des Nachts
wurde er nach einem kurzen, ſchweren, traumvollen Schlafe aufgerüttelt, aber
zugleich von unheimſichen Dämonen in Feſſeln gehalten. Er ſchrack unter
dem Gefühle auf, daß ſich eine kalte Hand auf ſein Geſicht lege. Aber was
für eine Hand! Sie konnte nur einem total in Fäulniß Uebergegangenen
gehören. Dabei waren Mund, Naſe, Luftröhre, Lunge mit einer ſtinkend
erſtickenden Schwere, wie mit Blei belegt. Er zuckte krampfhaft wie ein
Erſtickender; er konnte nicht athmen, und die wenige Luft, die er noch ein-
zuziehen vermochte, durchſtach ihn wie das ſchärfſte Gift. ö
Annesley war ein Mann von beſter Jugendkraft und ſtärkſten Ner-
ven. Er kämpfte und rang mit der ſchweren, rieſigen Mordgewalt, wie
mit einem Rieſen von Fleiſch und Bein. Er wußte, daß es jetzt gälte, mit
dem höchſten Aufwande phyſiſcher und moraliſcher Kraft zu kämpfen. Er
ſchlug tapfer um ſich, die Lunge gewann die Kraft des Athmens wieder;
er ſprang auf und taumelte nach dem Fenſter, das er aufriß, um in die
kühle, friſche Nachtluft hinauszuathmen, in die ſtille, todte, dämmernde
Nacht mit den Leichenſteinen, die über die epheuumrankte Gartenmauer
hinüber grinsten und ſich vor den Augen des Luftſchöpfenden, des Troſt,
Aufklärung Suchenden wie bedeutungsvolle Ausrufungszeichen erhoben.
Charles Annesley ſchloß nach einigen Sekunden das Fenſter wieder
und tappte leichenblaß aus dem Engelszimmer hinaus. Der Schrecken,
der Mordgeiſt, der Würgengel hatte ſich ihm offenbart — der menſchen-
haſſende Geiſt, dem eben ſein geliebtes junges-Weib geopfert worden war.
Er hatte den Geiſt erkannt — leider zu ſpät, und war des Sieges
über ihn gewiß. Aber er wollte beſtimmtere, zahlreichere Beweiſe und
Zeugen.
Am folgenden Morgen rief er die alte Charlotte zu einer Konferenz
in's Frühſtückzimmer. Sie kam, wieder total zu ihrem Vortheil verändert,
wie früher, aber noch reinlicher, reſpektabler, gleichſam gebildeter, feiner.
Er examinirte ſie über alle die Krankheits⸗ und Todesfälle im Hauſe, de-
ren Zeugin ſie geweſen war.
In dieſen Unterſuchungen wurde er ſpäter von dem Doktor Moway,
den er zu ſich geladen hatte, weſentlich unterſtützt. Moway, Anfangs erſtaunt
über die Anweſenheit der alten Charlotte, fand bald, daß ſie ſehr dienlich
und weſentlich für die Unterſuchung ſei.
Es ergab ſich zunächſt, daß die damals unerklärlichen Vorboten der
Krankheit und des Todes in allen Faͤllen ſich gleichartig gezeigt hatten:
ſchwere nervöſe Affektionen mit gleichartigen Träumen, kataleptiſche Anfälle,
 
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