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Heidelberger Familienblätter — 1868

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No. 144 - No. 155 (2. December - 30. December)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

M 151.

Freitag, den 18. December

1868.

Die Wahrheit.

Eine Erzählung.

(Fortſetzung.)
„Alſo das wäre das Ende der erſten Lection!“
ſeufzte der arme Karl bei ſich ſelbſt, während er
ſich niedergeſchlagen auf den Weg nach dem Ge-
ſchäftslokal machte, in welchem er als Commis an-⸗
geſtellt war. „Ich habe kaum ſeit einer Stunde
angefangen, die Wahrheit zu ſprechen, und ſchon
ſehe ich mich aus dem Hauſe gewieſen und ent-
erbt — Ha! ich bitte um Entſchuldigung, Mamſell
Walter!“ ö
In ſeiner Zerſtreutheit war er gegen eine um-
fangreiche Frauensperſon angerannt, welche, mit
ihrer Crinoline die ganze Breite des Trottoirs ein-
nehmend, einhergerauſcht kam wie eine Fregatte
unter vollen Segeln.
„Hil hil hi! Woran dachten Sie denn, Herr
Stillfried?“ kicherte die Fregatte. ö
„An meine Tante und an meinen Onkel, Mam-
ſell Walter“, ſagte Karl, indem er ſeine Augen
zerſtreut über die ſo ſtattlich herausgeputzte Geſtalt
ſchweifen ließ.
„An Ihre Tante und Ihren Onkel! Ha, das
nenne ich einen gut gezogenen Neffen! Aber —
hi! hi! hi! — Sie ſehen ſich wohl meinen neuen
Hut an! wie?“
„Ja * ö
„Hi! hi! hi! Nun, da Sie einmal ſo auf-
richtig ſind, wie gefällt er Ihnen ?“
„An und für ſich ganz
Kopfe aber durchaus nicht!“
„Und warum denn nicht,
darf?“
„Weil er für Sie nicht paßt!“
„Und warum paßt er denn nicht fur mich?
Sagen Sie mir es ganz aufrichtig, denn ich weiß,
Sie ſind ein junger Mann von Geſchmack!“
„Nun denn, aufrichtig geſprochen, nach meiner
Anſicht iſt der Hut für eine ſo ſtarke Perſon zu
leicht, für eine ſo alte Perſon zu jugendlich und
für eine dienende Perſon zu elegant.“ ö
„Wer hat Ihnen denn geſagt, daß ich alt ſei?“
rief die entruͤtete Mamſell Walter und ward roth
bis hinter die Ohren.
„Drei ſichere Kennzeichen verrathen es mir —

wenn ich fragen

gut — auf Ihrem

Ihre corpulente Geſtalt, Ihr dünnes Haar und
Ihre ſchwachen Augen. Dieſe Symptome ſind
zuſammengenommen untrügliche Kennzeichen des
Alters.“ ö
„Herr Stillfried, Sie beleidigen mich!“
„Das iſt durchaus nicht meine Abſicht, Mam-
ſell Walter! Sie verlangten aber meine Meinung
zu hören und ich habe Ihnen dieſelbe aufrichtig
mitgetheilt.“
„Sie ſagten, ich ſei eine alte, dicke, überputzte
dienende Perſon.“
„So ungefähr war es allerdings, dies gebe
ich zu..
„Sie ſind ein unausſtehlicher, voreiliger, dum-
mer Ladenſchwengel!“ rief die aufgebrachte Zofe
und rannte davon.
„Da“, ſagte Karl bei ſich ſelbſt, „habe ich
mir abermals eine Feindin dadurch gemacht, daß
ich die an mich geſtellten Fragen der Wahrheit
gemäß beantwortete — und dieſe neue Feindin iſt
die Dienerin der trefflichen Helene, die ich um kei-
nen Preis beleidigen möchte. Um keinen Preis!
Hm! es iſt gut, daß ich das nicht laut ſagte, denn
es war eine Lüge. Um irgendeinen Preis würde
ich ſie beleidigen, obſchon es natürlich ein anſehn-
licher ſein müßte. O, dieſe Angewohnheit des Lü-
gens! Wenn wir nicht andere belügen, ſo belügen
wir uns ſelbſt, obſchon dazu durchaus keine Noth-
wendigkeit vorliegt. Aber verwünſcht wäre auch
dieſes Wahrheitſprechen! Höchſt wahrſcheinlich werde
ich dadurch in ſo viel Verlegenheiten geräthen, daß
ich mich gar nicht wieder herausfinden kann..“
Während Karl Stillfried ſo mit ſich allein ſprach,
näherte er ſich dem prachtvollen Spiegelglasſchau-
fenſter der Modewaarenhandlung von Schulze, Mül-
ler und Meyerheim. ö
Mamſell Walter ſuchte mittlerweile in ihrer

Wuth alle Bekannten auf, die ſie in dieſem Stadt-

theile hatte, und fragte:
„Was hat nur dieſer unverſchämte Menſch, der
Stillfried von Schulze, Müller und Meyerheim?
Ich war heute Morgen in dem Laden, um für
meine Herrin etwas zu beſtellen, und auf dem
Heimwege begegnete ich ihm auf der Straße, wo
er ſich höchſt unanſtändig gegen mich benahm.“
„Wie? Ein ſo beſcheidener junger Mann, wie
Herr Karl Stillfried zu ſein ſcheint!“ ſagte Louiſe
Gloöckner, die kleine Putzmacherin, welche zufällig
 
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