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Heidelberger Familienblätter — 1874

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No. 79 - No. 87 (3. October - 31. October)
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Beuletriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

87.

Eauſtag. der 1. Sioben.

—.— ——ß5—

Die Anglückswaffe.
Original⸗Novelle nach Familien⸗Papieren.
Von C. von Vineenti.

Rachdruck verboten. Geſ. v. 11. VI. 70.

Vor Jahren verließ ich die altruſſiſche, goldhäuptige
Hauptſtadt, das heilige Moskau, der Slaven kuppelge-
kröntes Rom, um nach den ſüdlichen Provinzen zu reiſen.

Statt der etwas monotonen großen Poſtroute über Tula
und Arnol wählte ich die Seitenſtraße über Kaluga und

Wolchow. Einige Werſte über Malo⸗Jaros lawez hinaus
nimmt die Gegend einen großartigen Charakter an, der
immer wechſelreicher wird, je miehr man ſich dem Baſſin
der mächtigen Oka nähert. In einem rieſigen Tannen-
walde begegnet man dem weitläufigen Laurentius⸗Män-

nerkloſter, und nachdem man darauf den prächtigen Landſitz

des Kalugaer Archijerej (Erbiſchof) paſſirt hat, langt

man kurz nachher, immer zwiſchen Gärten und Villen,

in Kaluga an. Ungemein maleriſch gruppirt ſich die
thurmgekrönte, kuppelreiche Neuſtadt in einer zackigen

Krone hochaufſtarrender Felſen auf dem linken Ufer der

majeſtätiſch wandelnden Oka, derweil die weitläufigen
Reſte Altkagulas gegenüber lagern. Hoch auf ſchwindeln-

dem Felſenneſte horſtet das ſeiner maſſiven, zinnengekrönten
Ringmauern und Eckthürmchen wegen einer Feſtung nicht/
unähnliche Frauenkloſter, und über dem ganzen Bilde
ſchwebt von einer weithin gebietenden Plattform wie ein

Paradiesvogel, die altbyzantiniſche Kathedrale, von deren
ſtrahlender Kuppel ein rieſiges Goldkreuz herniederflammt.

Sobald wir Altkaluga hinter uns gelaſſen haben, em
pfängt uns in der Richtung nach Wolchow zu ein idylli-
ſches Thal, über deſſen blumige Matten die muthwillige

Upa ihre unſtäten Wellen rollt. Nach kurzem Marſche

finden wir hier am Eingange eines romantiſchen Seiten-
thales inmitten einer erſtaunlich reichen Vegetation den
Wallfahrtsort Kaluſchka, d. h. Kleinkagula, deſſen pracht-
volle Kapelle das weitberühmte Madonnenbild, zur Thräne

der höchſten Glückſeligkeit genannt, beſitzt. *

„Nicht weit von der Wallfahrtskirche erhebt ſich ein
ſtattlicher Edelſitz, deſſen heute verwilderte, großartige

Teraſſengärten bis zur Landſtraße herabſteigen. Das
ſtolze, im Renaiſſanceſtyl erbaute Schloß ſcheint öde und

verlaſſen. Ueber die reichverzierte Gitterthür ſchüttet ein
rieſiger Schneeballenbaum ſeinen weißen Blüthenregen

auf den Weg und Geisblatt mit ſpaniſchen Wicken wu-
chern wildüppig über die hohe Staketenmauer. Der Gar-
ten iſt wüſt und voll Unkraut, Schmarotzerpflanzen um-
ranken lebenskräftig einen moosbedeckten Bronceſchwan,
deſſen ſchlankem Halſe einſt ein blinkender Strahl ent-
ſprang. Halb in die Erde verſunkene geborſtene Marmor-

tiſche, vermoderte Ruhebänke auf ihren Piedeſtalen, müd

gefallenen Rieſenſtämmen, welche die Wege! verſperren,

dies Bild der Verlaſſenheit. Und doch ſind noch nicht

drei Jahrzehnte dahingegangen, daß dies prächtige Haus

von glücklichen Menſchen bewohnt war⸗ Heute iſt das ſchmücken, während der Gärtner einen rieſigen Blumen-

Geſchlecht des einſtigen Beſitzers, deſſen Urahn der Aus-
ſage des Popen nach die ſchöne Wallfahrtskirche für das
durch ein Wunder aufgefundene Madonnenbild geſtiftet
hatte, erloſchen und der Name der Grafen Aloff iſt aus
dem goldenen Buche des ruſſiſchen Adels geſtrichen wor-
den. Das tragiſche Ende des letzten Sprößlings aus
dieſem edlen Hauſe bildet den Stoff zu unſerer Erzäh-

lung.

Gräfin Aloff, bewohnt, die ſich, nachdem ihr Gemahl, der

Graf Gregor, im Kaͤukaſus den Tod gefunden, hierher
zurückgezogen hatte. Obwohl die Dame noch jung und

von ſeltener Schönheit war, beſchloß ſie doch ihres ein-

zigen vergötterten Sohnes Andreas Erziehung zu ihrer
Hauptlebensaufgabe zu machen, weshalb ſie die glänzend-

ſten Heirathsanträge entſchieden zurückwies. Der junge
Andreas wuchs denn in der Einſamkeit dieſes Fämilien-
ſitzes unter dem zärtlich wachenden Auge der Mutter auf,
ohne andere Geſellſchaft, als die ſeiner Spielgefährtin.
der jungen Wera Palin, welche mit ihrem Vater Ka-
luſchka bewohnte. Michael Alexandrowitſch Palin war
ein altruſſiſcher Edelmann im echten Sinne des Wortes.
Brav, muthig, rauh und am Althergebrachten hängend,

wäre ihm der Militärdienſt inmitten ſeiner modernen

Ideen ergebenen Kriegskameraden unerträglich geweſen,
wenn er nicht in ſeinem Waffengefährten, dem Grafen

Gregor, einen in jeder Beziehung mit ihm ſympathiſiren-

den Freund gefunden hätte. Er war es, der den Grafen

in ſeine Bruderarme auffing, als der blitzende Jathagan

des Tſcherkeſſen in deſſen Bruſt tauchte, und der Ster-
bende dem Ueberlebenden Weib und Kind mit brechender

Stimme empfahl. Unverzüglich hatte er denn auch nach

dem Verluſt ſeines Freundes den Dienſt verlaſſen und

ſich nach Kaluſchka zurückgezogen, wo ihm nichts willkom-
mener ſein konnte, als die Wittwe des Grafen ferne von
dem Zwange der Moskauer Geſellſchaft, die dem Altruſſen
unerträglich ſteif, franzöſirt und angliſirt vorkam, zu
finden. Palin, der ſeine Frau bald nach ſeinem Freunde
verloren hatte, fand ſich, ſo gut er konnte in die Schwiel
rigkeit, ſeine einzige Tochter zu erziehen, wobei ihm die
Bemühungen der Gräfin kräftig zur Seite ſtanden. Die
große Intimität, die natürlich aus dieſen Beziehungen

erwuchs, hatte nach und nach die Eltern mit der Idee

vertraut gemacht, ihre Kinder eines Tages glücklich zu

vereinen. Inzwiſchen ſchritt die Zeit fort und Andreas

bezog die Petersburger Kadettenakademie, um ſich für die

in der Familie ſo zu ſagen erbliche Militärkarriere vor-
zubereiten. Acht lange Jahre waren verfloſſen, als eines
Tages die glückliche Mutter die frohe Kunde erhielt, daß
geliebte Sohn zum Officier in einem in Kaluga ſta-
tionirten Ulanenregiment ernannt ſei und in Kurzem in
Arme der Mutter fliegen werde. Da floſſen Freu-
denthränen, und großer Jubel zog durch alle Thüren

üd das einſame Schloß
ſich neigende mythologiſche Statuen vollenden mit den

Der' Morgen des erſehnten Tages brach an.

Schon in aller Frühe war die glückliche Mutter da
mit beſchäftiget, das Balkonzimmer mit Blumenguirlanden,

Lorbeerzweigen und blühenden Geisblattranken auszu-

amilienblätter.

Vor etwa dreißig Jahren war das Schloß von der

l
 
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