Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1875

DOI Kapitel:
No. 18 - No. 26 (3. März - 31. März)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43706#0105

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
jeidelberger Familienblätter.

Bellettriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitunng.

M 25. Samſtag,

den 27. März. 1875.

Am Iluſie.

Novelle von Mathilde Raven.

(öortſezung)

Eine Stunde ungefähr hatte ich ſo geſeſſen und träu-
meriſch auf den Strom hinausgeblickt, da lam Zeltner
mit raſchen Schritten die Terraſſe herauf.
„Mrs. Wesley!“ rief er athemlos und reichte mir
beide Hände entgegen. „Gott ſei Dank! Sie ſind ge-
rettet! Als ich in's Haus trat, rief mir das Dienſt-

mädchen entgegen: Soeben bringen ſie das Boot mit

Mrs. Wesleys Kleidern. Wiſſen Sie's ſchon, Herr
Doctor, daß Mrs. Wesley in's Waſſer gefallen iſt? Ich
taumelie zurück, ich glaunbte. — Ich mag es
nicht ausſprechen. Gott ſei Dank, daß Alles ſo glücklich
abgelaufen iſt! Erzählen Sie, wie kam es??
Er hielt meine Hände feſt, während ich erzählte,
und ſein Blick hing mit höchſter Spannung an meinen
Lippen. Ich ſah die wechſelnde Regung in ſeinem Ge-
ſichte, die Beſorgniß, die Angſt, die Freude —. Ein un-
ſäglich ſüßes Gefühl durchrieſelte mich, ich ſah, wie innig
er Theil nahm. ö ö
„Annie!“ rief er. „Wie entſetzlich, wenn ich Sie
nie oder nur als Leiche wieder geſehen hätte! Und hier

— —.

ſtand ich und ſah Ihnen nach, ohne Ahnung, daß Sie

dem Tode entgegentrieben!
Wahnſinnig werden!“
WWelcher Gedanke?“ fragte ich leiſe.
„Daß ich weiter leben müßte ohne Sie!“ flüſterte
er entgegen und preßte meine Hände, daß' ſie ſchmerzten.
Ich erwiderte kein Wort; was meine Augen geſagt
haben, weiß ich nicht, aber ſie mögen wohl verrathen ha-
ban, was mein Herz empfand, denn er ließ plötzlich meine
Hände los, ſein Arm umſchlang mich und mein Kopf

O, der Gedanke iſt zum

ruhte im nächſten Moment auf ſeiner heftig wogenden

Bruſt. ö
Nahende Schritte und Stimmen ſchreckten uns auf.
Ich hörte Frau Wilburg auf Engliſch ſagen: „Hier wer-
den Sie Mrs. Wesley finden.“
Im nächſten Angenblick trat eine Dame, der zwei
Herren folgten, hinter der Pappel hervor. „
„Annie!“ rief die Dame.
„Elſie Parſon! Wie kommſt Du hierher?“ war
meine Erwiderung.
Es waren Freunde aus Dresden.
Grüße und Briefe von meinen Geſchwiſtern. Sie hatten
ebenfalls Kinder, die ihnen läſtig wurden auf der Reiſe,
und mein Bericht über die Familie Wilburg hatte ſie
veranlaßt, auf ihrem Wege nach Paris C. zu berühren,
und zu verſuchen, ob vielleicht Dr. Wilburg ihre Knaben
ebenfalls unter ſeine Obhut nehmen wollte. ö
Frau Dr. Wilburg konnte ſich nicht ſofort entſchlie-
ßen. Sie haͤtte allerdings, wenn ſie das Zimmer her-
geben wollte, das ich augenblicklich bewohnte, noch Raum

Sie brachten

gehabt für ein paar Knaben, aber ſie ſcheute die vere
mehrte Laſt und Verantwortlichkeit. Zuletzt wurde di-
Verabredung getroffen, die Entſcheidung aufzuſchieben,
bis die Parſons von einem Ausfluge nach Hannover und
Caſſel zurückgekehrt ſein würden, den ſie von hier aus
unternehmen wollten. ö
Ich konnte es nicht ablehnen, die amerikaniſchen
Freunde nach ihrem Hotel zu begleiten und den Abend
mit ihnen zuzubringen. Nur mit halbem Ohr hörte ich
auf Elſi'es Erzählungen von Dresden, von meinem Bru-
der, von Major Coltville, von den Bekannten in Europa
und Amerika.
Meine Gedanken 11 immer nach der Scene auf
der Terraſſe zurück, die Elſie's Kommen unterbrochen
hatten. Es war mir, als erzähle ſie Dinge, die mich
gar nichts angingen. Und doch wieder war es, als theile
ſich langſam vor meinen Augen ein Nebel, der mir die
keite. Welt verhüllte und eine phantaſtiſche vorgau-
elte. — * ö
„Welch ein ödes, langweiliges Neſt iſt dies C.“
ſagte Mr. Parſon, als wir im Hotel am Fenſter ſaßen
und auf die ſtille Straße und in die niedrigen Häuſer
gegenüber ſahen. „Beſte Mrs. Wesley, wie halten Sie
b her aus? Ich höre, Sie ſind ſchon vier Wochen
ier ö
„Ja,“ fiel Elſie's Bruder, Mr. Bryan, ihm in's
Wort, „was beginnen Sie den ganzen lieben Tag? Es
gibt hier ja nicht einmal engliſche oder amerikaniſche Zei-
tungen. Ich kann nicht einmal erfahren, wie's in Spa-
nien ausſieht.
„Ich ſtudire Deutſch und ſtärke meine Nerven,“ ent-
gegnete ich, und fühlte, daß ich roth wurde. ö
„Komm mit uns nach Paris,“ bat Elſie. „Wir
wollen uns köſtlich amüſiren. Die Broughtons treffen
wir in Köln und die Hammonds in Brüſſel. Major
Coltville und Mr. Braddie ſind bereits in Paris.“
„Bei dieſer Hitze in Paris!“ rief ich.
„Wenn es ſo warm bleibt, können wir ja am Rhein
kühleres Wetter abwarten, in Bonn oder Coblenz. Wir
machen Abſiecher nach dem Siebengebirge und dem Nie-
derwald. Aber Annie, wie komiſch ſiehſt Du aus! —
Welche kindliche Friſur! Und wie ſchmal! Wie ein
Schulmädchen!“ ö
„Wozu ſoll ich mich putzen ?“ entgegnete ich. „In
Seide und Spitzen mit einem Lockenchignon wie dem
Deinen kann ich nicht auf dem Strome umherrudern und
gelegentlich in's Waſſer fallen.“
Sie brach in Lachen aus, indem ſie mich hin und
her wendete. ö ů
„Wenn Mris. Drake Dich ſähe, die immer vor Neid
vergehen wollte über Deine brillante Toilette! Und
Major Coltville, der Dich immer „Königin Anna“
nennt!ꝰ ö ö
Ich lachte mit ihr, aber der Blick, mit dem Mr.
Bryan mich muſterte, war mir nicht angenehm.
Ich trennte mich früh von meinen Freunden, weil
ich nach den Anſtrengungen dieſes Tages der Ruhe be-

durfte. Aber ich fand keinen Schlaf in dieſer Nacht trotz
 
Annotationen