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Heidelberger Familienblätter — 1875

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No. 79 - No. 87 (2. October - 30. October)
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Hcidelberger Zamilienblätter.

Belletriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

W S81.

Samſtag, den 9. Ottober.

1875.

Jerzy —
Eine Novelle aus Polens Gegenwart, von George v. Dyherrn.
Schluß.) ö

Der Pole machte ein erſtauntes Geſicht. Er konnte
ſich nicht erklären, was ſeine Gebieterin ſo früh in den
beſchneiten Wald getrieben und nun ritt. Graf Jerzy an
ihm vorüber und der Deutſche war auch anweſend.

„Die großen Herrſchaften haben doch eigenthümliche

Vergnügungen“ dachte er und fuhr davon. — — —
„Jerzy trat in den Saal, wo ſein Oheim noch mit
Pater Baſyli in lebhaftem Geſpräch ſaß. Es war dem
Grafen eine große Befriedigung mit einem ebenſo gläu-
bigen als duldſamen Prieſter ſeiner Kirche die hohen
Fragen der Zeit erörtern zu können. An dieſem Feſt-
tage, wo vor achtzehnhundert Jahren der Welt das
ewige Licht erſchien, der vollkommenſte Strahl der un-
endlichen Liebe Gottes, ſprachen der Staroſt und der
Prieſter mit heiligem Ernſt und tiefer Erregung von
dem Hochmuth, der die Liebe verdrängt und der räthſel-
haften furchibaren Verblendung, welche an das Gewand
der göttlichen Allmacht taſtet und es wagt ſich mit ihm
zu ſchmücken. *
„O, rief der Staroſt, wo ſind die Jahrhunderte, in
denen die Päpſte demüthig keinen anderen Titel bean-
ſpruchten als den ſie unter ihre Deerete ſetzten: ecclesiae
romanae presbyter! Hätten ſie doch niemals den Na-
men der heidniſchen Cäſaren Pontiferx Maximus oder
Papſt angenommen — welch dunkler Theil der Geſchichte
würde dann wegfallen “ ö ö
„Es iſt eine Schmach,“ fiel der Prieſter ein, „gegen
die ſich mein Inneres immer empörte, dieſe Theorie,
welche den Biſchof zum General ſtempelt und den Prieſter
nur als eine arme Maſchine anſieht, die nichts zu thun
hat, als zu gehorchen, den Weihwedel zu ſchwingen und
dominus vobiscum zu ſingen. Ich ſchweige, denn meine
Kraft reicht vicht aus, meine Stimme würde ungehört
verhallen, aber ein Mann thut uns Noth, der aus un-
ſerer Mitte hervorgehend, von Feuereifer beſeelt, furcht-
los mit energiſcher Stimme den tiefen Verfall des Ka-
tholismus brandmarkt und — — —

In dieſem Augenblick grade trat Jerzy hinter der

Portiere hervor, wo er die letzte Rede des Paters an-
gehört. Sein Herz hatte mit dieſen Worten eine neue

Auſregung erhalten, deren es immer bedurfte und die

jetzt doppelt heilſam für ihn war. Er fühlte plötzlich die

Stärke einer unſichtbaren Macht, die ihn einem ſicheren

Ziele zuführte, niedrig erſchien ihm der Gedanke an ſeine
Rache von dem ernſten Ruf, der durch die Welt ging
und eine Revolution auf religiöſem Gebiet forderte.
Er dachte an Amberg, deſſen Lob unermeſſen war —
er gehörte der proteſtantiſchen Kirche an, die Jerzy bis-
her verachtet. Und eine Umwälzung fand ſtatt in ſeinem
Character, der edel und hoch angelegt, nur zuweilen von
ſeinem raſchen Sinn, ſeiner voreiligen Handlungsweiſe
verdunkelt wurde.
Er hatte ein Gelübde abgelegt, faſt zu groß für eine

nicht begreifen.

junge Kraft, die ſonſt abhold der Entſagung nur die Er-
füllung feuriger Wünſche herbeiſehnt. —
Nun ſchenkte er ſein Herz der Menſchheit und dieſer
Gedanke ergriff ſein Innerſtes, daß er ſchauerte wie vor
der Nähe des Allerheiligſten. Finſterniß war über ihn
hereingebrochen, wie die ſchwarze Nacht über den Wan-
derer in der Wüſte, wo jeder Irrthum ſeinen Fuß ge-
fährlich wird, aber der düſtere Nebel theilte ſich vor ſei-
nen Augen, er ſah ein Licht, vielleicht hell genug auch

die Schatten, die hinter ihm lagen, vergeſſen zu machen,

und wie die angſtvolle Schwalbe vom Sturm gejagt nach
einem Segel auf der unermeßlichen See ausſchaut, ſich
zahm auf daſſelbe niederläßt, ſo ruhte ſeine Seele in dem
Vorſatz, eine ſchöne Pflicht zu erfüllen. ö ö
Wie mit einer feierlichen Majeſtät umkleidete ihn
dieſer Entſchluß und der Schmerz trat hinzu, der noch
wie der reinigende Thau in ſeinen Augen glänzte. —
Wer nie an ſich ſelbſt oder an Andern dieſe plötz-
liche Kriſis nach dem Fehlſchlagen ſeiner Hoffnungen
erfahren hat, der kann die Kraft, die daraus hervorgeht,
„Jerzy ſetzte ſich neben ſeinen Oheim, ſeine Hand er-
greifend und an ſeine Lippen führend. „Ich küſſe die
Hand der Weisheit und der Erfahrung,“ — ſagte er
bewegt. — Dann lauſchte er dem Geſpräch, das ſie fort-
ſetzten, indem ſie von der Religion auf die Politik über-
gingen. Und er lächelte mit ihnen, als Pater Baſyli
erzählte, Iberia Narazin habe vor Kurzem einen Kna-
ben über die Taufe gehalten und dabei, wie ſie ihm
geſtanden, gebetet, er möge zum Befreier Polens werden.
Eine Stunde ſpäter fuhr Frau von Narazin zu-
rück nach Bronikowo. Kurz war ihre Unterredung mit
Jerzy geweſen. Das Bild ſeiner Mutter ſtand vor
ihnen als ſtumme Zeuge. Sie gewann einen Enkel —
die arme ſchwergeprüfte Matrone, um ihn ſofort wieder
zu verlieren. ö ö
Aber froher und einer ſchweren Laſt ledig kehrte ſie
zurück und fand Iberia in Träumereien verſunken.
„Er iſt gerettet,“ ſagte ſie, weiter nichts. ——
Iberia erhob ſich. „Mutter, wie wenig bin ich dir
geweſen in den vergangenen Tagen, ich war eine Ein-
tagsfliege, nur bedacht, das Leben zu genießen. Dieſe
Stunde hat mich gereift und eines Beſſeren belehrt, ich
werde mich ändern — Mutter. ——
Frau von Narazin küßte ſie, „du haſt mir nie Kum-
mer bereitet mein Kind, du wirſt glücklich ſein, wenn
Gott meine Gebete erhört!! -—
Die Feiertage vergingen ruhig in Boguszyn. Der
Staroſt ſegnete die Verlobten, die vor ihm knieten und
erfüllte das Gelübde, das er einſt abgelegt, als Amberg
ſein Kind gerettet. —

Jerzy war ruhig und beſeelt von ſeinem Eniſchluſſe

weilte er mit ſeinen Gedanken kaum mehr bei den Ver-
wandten. * ‚ *
Am zweiten Feſttag Abendsr beſtieg er mit Pater
Baſylt den Schlitten, der ihn für immer von dem Ort
führte, der ſoviel ſelige und trübe Erinnerungen für ihn
hatte. Ein ſcharfer Oſtwind weht, — der Staroſt ſtand
 
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