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Heidelberger Familienblätter — 1877

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No. 27 - No. 34 (4. April - 28. April)
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Heidelberger Lamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

velteſt, ich möchte nur, du wäreſt nicht aus irgend einer

27.

Mittwoch, den 4. April

1877.

Bieſſeits und jenſeits des Ycrans.
ö Erzählung von F. A. Lorche.
Nachdruck verboten. Geſ. v. 11. VI. 70.

Die elegante Equipage wartete ſchon vor dem praͤch-
tigen Hauſe, welches der reiche Banquier Feld bewohnte,
während dieſer noch im eifrigen Geſpräche mit ſeinem
Sohne Herbert auf und nieder ging.
Der Banquier war ein ſtattlicher Mann mittlerer
Größe, Anfang der Fünfziger. Um eines Hauptes Länge
überracte ihn ſein Sohn, aus deſſen jugendlichen Zügen
Lebensluſt und Frohſinn ſtrahlten, wie ſie in ſo un-
getrübtem Glanze nur ſelten das Antlitz eines fünfund-
zwanzigjaͤhrigen jungen Mannes durchleuchten.
„In Bezug auf den geſchäftlichen Theil deiner Miſ-
ſion, lieber Sohn,“ ſagte der Banquier, „ſind wir wohl
über Alles im Klaren und ich bin überzeugt, daß du
deine Aufgabe drüben ebenſo vortrefflich löͤſen wirſt, wie
du es hier gethan. — Aber du weißt, es iſt noch ein
anderer Zweck, den ich mit deiner Sendung zu verbinden
hoffe. — Natürlich hege ich keinen Moment den Wunſch,
daß du dein inneres Glück meinem Plane hintenanſetzen

romantiſchen Grille dieſem von vornherein entgegen, und
wüßte gern, ob dein Herz auch wirklich noch frei iſt.“
„Vollkommen!“ entgegnete der junge Mann lachend,
„ſo frei, daß die Damen, denen ich in dieſer Saiſon
nach der Reihe den Hof gemacht, wenn ſie in mein Herz
ſehen könnten, ſich über die Abweſenheit jedes weiblichen
Portraits darin entſetzt von mir abwenden würden. —
Und was die romantiſche Grille betrifft, ſo glaube mir,
— ich bin nicht unempfindlich gegen eine Million. —
Uebrigens,“ fuhr er fort, während er eine Photographie
in ſeiner Hand aufmerkſam betrachtete, „wenn dies
Engelsköpfchen nicht lügt, kann es wohl keine allzuſchwere
Aufgabe ſein, ſich in ſie zu verlieben.“

„Sicher lügt es nicht,“ entgegnete der Vater, „man

hat mir von verſchiedenen Seiten nur Gutes über das
Mädchen berichtet.“
Die Pendüle auf dem Kamin ſchlug dreiviertel.
„Es iſt die hochſte Zeit, ich muß fort,“ rief Herbert.
Vater und Sohn umarmten einander herzlich, dann
eilte der Letztere die breite Marmortreppe hinunter. —
Feucht ſchimmerte es in ſeinen Augen, als er aus dem
Wagen noch einmal zum Fenſter hinauf den Vater grüßte.
. Ein anderer Abſchied fand in derſelben Stunde
einige Straßen weiter zwiſchen zwei Menſchen ſtatt, welche
auch, wie die beiden, von denen bisher die Rede war,
allein im Leben zuſammenſtanden, aber unter weſentlich
anderen Bedingungen, wie jene.
In dem ͤrmlichen Parterrezimmer einer Hofwohnung,
das von Blumen duftete, ſtand am Fenſter ein ſchöner,
bequemer Lehnſtuhl, vor demſelben ein zierliches Tiſchchen
— in dieſem Stuhl ſaß ein Mädchen von dreißig Jahren.
— Die krankhafte Geſichtsfarbe, ein Zug tiefen Leidens,
thaten ihrem angenehmen Ausſehen keinen Abbruch, ihre
ſchlanken Hände bewegten ſich frei, ſie hatte die feine

Stickerei, an der ſie gearbeitet, auf den Tiſch vor ſich
hingelegt; aber ihre Füße waren ſeit Jahren gelähmt,
und nicht ohne andere Hülfe konnte ſie ihren Stuhl
verlaſſen. ů
Vor ihr ſtand ihre um zehn Jahre jüngere Schweſter
Editha. Eine hohe, ſchlanke Geſtalt, ein Kopf, deſſen
ideale Schönheit an die Antike erinnerte; in der ganzen
Haltung lag etwas ſo Stolzes und Abweiſendes, daß es
ihr von den jungen Mädchen, denen ſie in einer Schul-
klaſſe Unterricht gab, den Beinamen die „Prinzeſſin“
eingetragen hatte. — Nur in den ſanften blauen Augen
verrieth ſich die weiche, warme Maͤdchenſeele.
„Wenn du mich ſo ſchmerzlich anſiehſt, Marie“,
ſagte ſie, ſo machſt du es mir unmöglich, fortzugehen. —
Ein Unglück kann mir auch auf der kurzen Eiſenbahn-
ſtrecke begegnen, die ich jede Woche zur Stunde von hier
nach P. fahren muß. — Und bin ich denn nicht überall

in Gottes Hand?“

„Ich ſorge in dieſem Augenblicke nicht um dich, ich
dachte nur, wie ich es anfangen werde, ohne deine Nähe
weiterzuleben.“
Editha kniete neben dem Stuhle der Schweſter nie-
der, nahm zärtlich deren Hand in die ihre und ſagte:
„Weiter leben ohne mich ſollſt du auch nicht, nur
auf ein Jahr verlaſſe ich dich, damit wir dann heiterer
als bisher mit einander weiterleben können. Deine
Krankheit kann ich dir nicht abnehmen, die mußt du tra-
gen, und du trägſt ſie mit Engelsgeduld. — Aber Krank-
heit und Armuth vereint ſind zwei zu arge Verbündete,
du kannſt es mir nicht wehren wollen, gegen den letzteren
mit allen mir zu Gebote ſtehenden Mitteln zu Felde zu
ziehen.“
„Die Droſchke iſt da und will nicht warten“, mel-
dete die alte Magd. — Die Schweſtern umarmten ſich,
als wenn ſie nimmermehr von einander laſſen könnten.
— Doch dann ermannte ſich die Kranke und trieb
Editha fort.
Mit demſelben Zuge, in welchem Herbert erſter
Klaſſe fuhr, kam Editha in der Stadt an, in deren
breiten Fluß der Dampfer vor Anker lag, welcher beide
nach Amerika hinüberführen ſollte. — Am ſpäten Abend,
unter ſtrömendem Regen beſtiegen ſie das Schiff, und
während der Nacht fuhr es aus dem Fluß nach dem
offenen Meere hinaus. ö ö
Paſſa-

Am nächſten Morgen war Herbert der erſte
gier, der auf's Verdeck kam. Entzückt betrachtete er die
weite, blaue Waſſerfläche und athmete in vollen Zügen
die kräftige, feuchte Meeresluft, die erfriſchend um ſeine
Stirn wehte. Als er ſich nach längerer Zeit umwandte,
um in die Kajüͤte zurückzukehren, blieb er überraſcht
ſtehen. Auf der vorletzten Stufe der Schiffstreppe ſtand
Editha; ihre bleichen Wangen leiſe geröthet durch die
friſche Morgenluft. An den langen Wimpern ihrer
ſchönen Augen ſchwebten zwei große Thränen. Andachts-
voll ergriffen betrachtete ſie das ihr ſo neue Schauſpiel
dieſer großartigen Natur.

Herbert grüßte ſie, ſich tief verbeugend. — Den
Gruß mit einer leichten Neigung des Kopfes erwidernd,
 
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