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Heidelberger Familienblätter — 1878

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No. 79 - No. 87 (2. October - 30. October)
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Heidelberger Lamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

No. 79.

Mittwoch, den 2. Ociober

1878.

Ber Ranzleirath.))

Das Jahr 1877 lag in den letzten Zügen.
waren ihm nur noch 2 Stunden Zeit gegönnt, um die
vielen Sünden, die es begangen, zu bereuen und abzu-
büßen und dann in das große Grab zu ſinken, in dem
vor ihm ſchon Milliarden ſeiner Collegen modern. Mit
andern Worten, es war im Jahr 1877, am 31. Decbr.,
Nachts 10 Uhr. ö —
Ein abſcheulicher. Windſturm fegte durch bie Straßen
der Reſidenz und peitſchte die Geſichter der wenigen nächt-
licheu Wanderer mit ſeinen naßkalten Schneeflocken. Vom
Bahnhofe her tönte der ſchrille Abſchiedspfiff des letzten
in dieſem Jahre abgehenden Zuges. Der letzte Pferde-
bahnwagen in dieſem Jahre keuchte durch die „Lange-
Straße“, und ſeine Glocke rief zum letzten Male zur
Theilnahme an dieſer letzten unfreundlichen Fahrt. Der
goldene Engel auf der evangeliſchen Stadtkirche war in
dieſer Stunde ganz aus dem Häusle; der Sturm pfiff
ihm ſo aus allen Ecken um die Ohren, daß er nicht mehr
wußte, nach welcher Richtung er ſeinen Palmzweig aus-
ſtrecken ſollte, und ſich rathlos um ſich ſelbſt drehte.
Sonſt und in zweifelhaften Fällen war ſein Gegen-
über, der vergoldete Merkur auf der Spitze des Rathhaus-
thurmes, ſein zuverläſſiger Rathgeber, denn er wußte ſtets,
wo der Wind herkommt, und hing, ein ächter Reſidenzler,
ſeinen Mantel nach dem Winde. Aber abgeſehen davon,
daß es doch eigentlich nicht anſtändig iſt, wenn ein evange-
liſcher Engel ſich mit dem heidniſchen Merkur, dem Gott
der Spitzbuben, in ſo windige Geſchäftsverbindungen ein-

läßt, ſo war in dieſer ſtürmiſchen und rabenfinſtern Nacht,‚

auch bei dem beſten Willen, ein gegenſeitiger Verkehr nicht
möglich, und der Engel blieb ſeinem eigenen Schickſale
üͤberlaſſen.
In dem vierten Stockwerke eines Hauſes in der
Eiſenbahn⸗Vorſtadt erblicken wir in dieſer Stunde ein be-
wolen Fenſter, mit dem wir uns etwas näher befaſſen
wollen. ö
Wir haben gleich dem hinkenden Teufel von Le Sage

)) Daß wir dieſen biedern, redlichen „Kanzleirath“ nicht
in „ganzer Figur,“ ſondern nur als Knie⸗ oder gar Bruſtſtück
dieſen Spalten einverleiben können, thut uns aufrichtig leid,
denn es iſt in der That eine prächtig liebenswürdige, ehrliche
alte Haut — und ſeine ganze ſiebenſeelige Sippe nicht minder!
Aber unſere Leſer müſſen ſich eben jetzt ſchon mit einer kleinen
Blumenleſeaus dem Tagebuch, oder vielmehr aus dem Rechnungs-
buch jenes Wackeren begnügen, bis ihnen der erſchienene weltbe-
rühmte Kalender des Lahrer „Hinkenden Boten“ für das Jatzr 1879,
dem wir die folgenden Bruchſtücke einer eben ſo treuen als warm
empfundenen und humorvollen Schilderung des Subaltern-

beamten⸗Lebens entnehmen, die „ganze Geſchichte“ zu Händen-

und zu Herzen führen wird.
um Lobe des „Lahrer Hinkenden“

daß wie zum 1878er Jahrgang ein vorzügliches Bildniß des
Kaiſers (— nach dem von Camphauſen für dieſen Zweck ge-

malten Original —) in geſchmackvollem Goldrahmen als Prämie

gegeben ward, ſo den Käufern des 1879er Kalenders als Pen-
dant zu jenem Reiterbild ein ſolches des deutſchen Kronprinzen
— von demſelben Meiſter entworfen — in Ausſicht ſteht.

Es

im Allgemeinen noch
Etwas anzuführen, halten wir für überflüſſig; nur ſei erwähnt,

die Macht, die Dächer der Häuſer abzudecken, um die Ge-
heimniſſe der Familien zu belauſchen. ö
Lüften wir etwas das Dach des vierſtöckigen Hauſes
der Eiſenbahnſtraße, ſo ſloßen wir gleich auf dem Speicher
auf eine Lagerſtätte, aus deren Kiſſen ein Schnarchen
uns vermuthen läßt, daß wir uns in dem luftigen Käm-
merlein eines dienſtbaren Geiſtes befinden. Und wir
wollen es auch nur gleich geſtehen, es iſt die Kathrine.
— Eine Treppe tiefer betreten wir zwei dunkle Kam-
mern, aber bitte, etwas leiſe aufzutreten, daß wir die
Kinder nicht wecken. In der einen Kammer ſchlummern
drei Schweſtern, in der andern drei Brüder. Wir be-
geben uns in das Zimmer, deſſen Fenſter wir von der
Straße aus erleuchtet geſehen haben, und finden das
Eltern⸗Paar, den Herrn Kanzleirath Müller und ſeine
Gattin, Frau Thereſe. Es iſt unſer Kanzleirath, ein
alter, lieber Bekannter des geneigten Leſers, dem wir in

dieſer Neujahrsnacht unſeren Beſuch abſtatten, um zu

ſehen, was der Mann in den letzten Stunden des Jahrs
treibt, und um einen Blick in ſeine Haushaltung und in
ſein Familienleben zu werfen.
Der Herr Kanzleirath iſt ein Mann von erſt fünfzig
Jahren, doch Aktenſtaub und des Lebens Sorgen haben

ihm vor der Zeit Schnee auf das Haupt geſtreut und

ſeine Stirne gefurcht, unter der aber zwei gute Augen
freundlich, wohlwollend und — glücklich in die Welt
hineinblicken. ö ö
Sohn eines niederen Beamten, war es der Stolz
ſeines Vaters geweſen, ihn ſtudiren zu laſſen, denn der
Sohn war brav und talentooll und berechtigte zu großen
Hoffnungen. Der Vater, ein tüchtiger Mann, legte ſich
alle möglichen Entbehrungen auf, die Mutter, eine vor-
treffliche Frau, arbeitete halbe Nächte durch für ihren
Sohn; ſie glaubten es erzwingen zu können, doch ver-
gebens. Im zweiten Semeſter mußte das Studium aus-
geſetzt werden, — es reichte eben nicht — der Sohn trat
in den niederen Staatsdienſt, und es war ein glückliches
Ereigniß, daß er in einer Kanzlei ſeine Laufbahn machen

konnte.

Nun ſehen wir ihn in gereiftem Alter, Haupt einer
Familie von 6 Kindern, die er mit 3500 Mark jähr-
licher Beſoldung erhalten und erziehen ſoll. Sie haben
in der Regel ſechs Kinder, wenn ſie kleine Beſoldungen
haben, und die Zahl der Kinder ſteht meiſt im umgekehr-
ten Verhältniſſe zur Größe der Einnahme. Doch der

Mann iſt zufrieden und glücklich, denn ſein Weib ſteht

ihm treu zur Seite und ſeine Kinder ſind geſund
und brav.
Sehen wir ein wenig, wie unſer Kanzleirath es an-
fängt, ſeine 3500 Mark jährlich los zu werden.
Wir kommen gerade zur rechten Zeit. Mann und

Frau ſitzen allein beim Scheine einer Petroleumlampe,
und, wie jedes Mal in den letzten Stunden des Jahres,
ſtellen ſie die Ausgaben des verfloſſenen Fahres zuſam-
men und entwerfen ihr „Budget“ für das kommende

Jahr. Der Mann hat Ordnung in ſeinem Hausweſen:
ſeine Frau führt ein Tagebuch über die täglichen Aus-
lagen, er führt die Kaſſe und das Hauptbuch, welches
 
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