Heidelberger Lamilienblätter.
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
NO. 48.
Mittwoch, den 18. Juni
1879.
Des Adlers Borſt.
Eine Novelle von L. Du Bois.
(Fortſetzung.)
Das war Florettens Geſchichte, die ſie mir erzaͤhlte,
während ich an jenem Abende dort ſaß, wartend, daß die
Wolken ſich zertheilen und die Nebel verſchwinden ſollten,
— eine Geſchichte, die ſie einfach, aber mit Gefühl er-
zahlte und welche die alte Martha, in einer Ecke ſitzend
und ſtrickend, mit zahlloſen Geſtikulationen und Anrufungen
der heiligen Jungfrau begleitete. Das alte Weſen ſchien
froh zu ſein, endlich einen neuen Zuhörer gefunden zu
haben, und ſah mich überdies mit einem Gefühle von
Dankbarkeit für das aufrichtige Lob an, das ich ihren
gebackenen Forellen geſpendet hatte. Die Geſchichte paßte
ganz zu der zarten Schönheit der Blume, welche ich hier
in der Wildniß fand, aber ſie war ſo eigenthümlich, daß
ſie mir eher ein Blatt aus einer poetiſchen Novelle, als
ein Abſchnitt aus einem wirklichen Menſchenleben zu ſein
ſchien, namentlich im Vergleich mit dem meinigen, das
nur aus materiellen Vergnügungen und eifrigen Be-
ſtrebungen nach Befriedigung des Ehrgeizes beſteht und
von den Pfaffen nicht mit Unrecht „weltlich“ genannt
wird. Aber auch in dem wirklichen Leben tragen ſich
oft ſeltſame Geſchichten zu, die das Gefühl tief ergreifen
und häufig noch wunderbarer als diejenigen ſind, welche
einer Novelle oder einem Gedichte als Grundlage dienen.
Wenn ſie jedoch Männern, wie wir ſind, begegnen, ſo
berühren ſie nur unangenehm, denn ſie ſind den anderen
Blättern jenes Buches ſo unähnlich, das, nur mit ſelbſt-
ſüchtigen Grundſätzen angefüllt, vor unſeren Augen glänzt.
Sie tragen den Ring jenes Arkadiens, das ſeine goldenen
Thore vor uns ſchließt, ſobald wir das Knabenalter ver-
laſſen, und an das wir, um uns zu rächen, nicht mehr
glauben zu wollen geſchworen haben, — ein Schwur,
den wir zuweilen halten, aber, Gott weiß es, zu unſerem
eigenen Schaden. *
Ich verweilte an jenem Abende ſo lange als ich konnte,
bis der Horizont ſich aufgeklärt hatte und die Sonne
wieder ſo hell ſchien, daß mir kein Vorwand zu einem
längeren Verweilen in jenem düſteren Zimmer blieb, wo
die hölzernen Stricknadeln der alten Mariha unaufhörlich
klapperten und die ſanften Gazellenaugen der jungen
Schloßherrin abwechſelnd auf mich und meine Skizzen
mit jener Miſchung von Scheu, Offenheit und Unſchuld
blickten, die ihrem Weſen einen ſo großen Reiz verlieh.
Sie war eine Studie für mich, ein friſches Spielwerk,
um mich zu unterhalten, ſo lange ich in der dortigen
Gegend blieb. Ich mochte nicht gehen, ohne gewiß zu
ſein, daß ich wieder kommen durſte, denn ich wünſchte ihr
ſchönes Geſicht in meiner Sammlung zu haben. Nach-
dem ich deßhalb für die gewährte Zuflucht gedankt hatte,
bat ich um die Erlaubniß, dahin zurückkehren zu dürfen,
wo ich eine ſo freundliche Aufnahme gefunden hatte.
„Zurücktehren, mein Herr?“ erwiderte ſie. „Gewiß,
wenn es Ihnen Vergnügen macht. Aber der Weg von
wie in der ganzen übrigen Welt.
Luz wird Ihnen lang werden,“ fügte ſie hinzu und ſah
mich dabei ſo unſchuldig mit den großen, klaren und d a⸗
mals noch ungetrübten Augen an, indem ſie mir ihre
Hand zum Abſchiede reichte. ö
Ich beruhigte Floretten in dieſer Beziehung und ging
fort, während ſie in der tiefen Fenſterniſche ſtehen blieb,
wo das Purpurlicht der untergehenden Sonne ihre ſchöne
Stirn und das goldene Haar wie mit einer Glorie um-
floß. Noch jetzt ſehe ich ſie vor mir ſtehen wie damals,
— das arme Kind! — Aber fort damit! — Der Abend
iſt ſo heiß, — will denn kein kühles Lüftchen kommen!
WwWenn ſie wieder kommen, Monſieur,“ ſagte die alte
Martha, als ſie mich durch den dunklen Gang führte,
„werden Sie der erſte Gaſt ſein, den wir ſeit vier Jah-
ren geſehen haben.“
Die Alte war eine heitere, geſchwätzige Frau, von un-
endlicher Anhänglichkeit für die faſt erloſchene Familie de
l'Heris beſeelt, und lebte jetzt nur für den letzten Spröß-
ling derſelben, das einſame, verwaiſte Kind.
„Ja, ja,“ fuhr ſie fort, „woher ſollten uns auch Gäſte
kommen? Diejenigen, welche mir recht wären, würden
ſchlechte Geſellſchaft für Demoiſelle Florette ſein, und die,
welche ſie ſuchen ſollten, kommen nicht. Ich erinnere mich
der Zeit, Monſieur, als die Höchſten in allen Departe-
ments froh waren, auf die Einladung der Familte de
PHeris kommen zu dürfen; aber Generationen ſind ſeit-
dem verſchwunden, und Gold und Ländereien ebenfalls,
und wenn man nicht mehr bewirthen kann, — was küm-
mern ſich dann die ehemaligen Gäſte um den verarmten
Wirth! Das iſt hier in den Pyrenäen eben ſo gut wahr,
Ich habe nicht ſtebzig
Jahre gelebt, ohne dieſe Erfahrung zu machen. Wäre
mein Kind noch die Erbin des früheren Glanzes der Fa-
milie de l'Heris, ſo würden ſich genug Bewerber um ſie
drängen; allein ſie lebt mit mir, einer alten Bauersfrau,
ihrer einzigen Gefährtin und Dienerin, verlaſſen in dieſen
Ruinen, und Niemand kümmert ſich um ſie, als von Zeit
zu Zeit die frommen Schweſtern des nahen Kloſters,
unter deren Zahl ſie endlich auch ihre letzte Zuflucht wird
ſuchen müſſen.“ ö
Sie öffnete mir die Pforte, an die ich zwei Stunden
vorher mit ſo wüthender Gewalt gepocht hatte, ich dankte
für die genoſſene Gaſtfreundſchaft, — denn Geld wollte
ſie nicht annehmen, — wünſchte ihr einen guten Abend
und ritt den Weg nach St. Sauveur hinab und weiter
nach Luz, während ich nicht ohne Mitleid an das junge
Leben dachte, das, kaum erblüht, ſchon beſtimmt war, in“
einem Kloſter zu verwelken. Jedes andere Loos, dachte
ich, wäre beſſer für ſie. Die kindliche Liebenswürdigkeit
des jungen Mädchens und die Sonderbarkeit ihrer Lage
intereſſtirten mich, und ich hoffte, mir noch manchen langen
Sommerabend in ihrer Geſellſchaft zu verkürzen, wenn
ich der Gemſenjagd und meiner Palette müde war. Auf
jeden Fall beſaß ſie mehr Friſche und Reize als die Schö-
nen von Caux Bonnes.
Am folgenden Morgen erinnerte ich mich ihrer Er-
laubniß und meines Verſprechens und verließ Luz, um
den Bergpfad zum Nid de P'Aigle, „des Adlers Horſt“,
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
NO. 48.
Mittwoch, den 18. Juni
1879.
Des Adlers Borſt.
Eine Novelle von L. Du Bois.
(Fortſetzung.)
Das war Florettens Geſchichte, die ſie mir erzaͤhlte,
während ich an jenem Abende dort ſaß, wartend, daß die
Wolken ſich zertheilen und die Nebel verſchwinden ſollten,
— eine Geſchichte, die ſie einfach, aber mit Gefühl er-
zahlte und welche die alte Martha, in einer Ecke ſitzend
und ſtrickend, mit zahlloſen Geſtikulationen und Anrufungen
der heiligen Jungfrau begleitete. Das alte Weſen ſchien
froh zu ſein, endlich einen neuen Zuhörer gefunden zu
haben, und ſah mich überdies mit einem Gefühle von
Dankbarkeit für das aufrichtige Lob an, das ich ihren
gebackenen Forellen geſpendet hatte. Die Geſchichte paßte
ganz zu der zarten Schönheit der Blume, welche ich hier
in der Wildniß fand, aber ſie war ſo eigenthümlich, daß
ſie mir eher ein Blatt aus einer poetiſchen Novelle, als
ein Abſchnitt aus einem wirklichen Menſchenleben zu ſein
ſchien, namentlich im Vergleich mit dem meinigen, das
nur aus materiellen Vergnügungen und eifrigen Be-
ſtrebungen nach Befriedigung des Ehrgeizes beſteht und
von den Pfaffen nicht mit Unrecht „weltlich“ genannt
wird. Aber auch in dem wirklichen Leben tragen ſich
oft ſeltſame Geſchichten zu, die das Gefühl tief ergreifen
und häufig noch wunderbarer als diejenigen ſind, welche
einer Novelle oder einem Gedichte als Grundlage dienen.
Wenn ſie jedoch Männern, wie wir ſind, begegnen, ſo
berühren ſie nur unangenehm, denn ſie ſind den anderen
Blättern jenes Buches ſo unähnlich, das, nur mit ſelbſt-
ſüchtigen Grundſätzen angefüllt, vor unſeren Augen glänzt.
Sie tragen den Ring jenes Arkadiens, das ſeine goldenen
Thore vor uns ſchließt, ſobald wir das Knabenalter ver-
laſſen, und an das wir, um uns zu rächen, nicht mehr
glauben zu wollen geſchworen haben, — ein Schwur,
den wir zuweilen halten, aber, Gott weiß es, zu unſerem
eigenen Schaden. *
Ich verweilte an jenem Abende ſo lange als ich konnte,
bis der Horizont ſich aufgeklärt hatte und die Sonne
wieder ſo hell ſchien, daß mir kein Vorwand zu einem
längeren Verweilen in jenem düſteren Zimmer blieb, wo
die hölzernen Stricknadeln der alten Mariha unaufhörlich
klapperten und die ſanften Gazellenaugen der jungen
Schloßherrin abwechſelnd auf mich und meine Skizzen
mit jener Miſchung von Scheu, Offenheit und Unſchuld
blickten, die ihrem Weſen einen ſo großen Reiz verlieh.
Sie war eine Studie für mich, ein friſches Spielwerk,
um mich zu unterhalten, ſo lange ich in der dortigen
Gegend blieb. Ich mochte nicht gehen, ohne gewiß zu
ſein, daß ich wieder kommen durſte, denn ich wünſchte ihr
ſchönes Geſicht in meiner Sammlung zu haben. Nach-
dem ich deßhalb für die gewährte Zuflucht gedankt hatte,
bat ich um die Erlaubniß, dahin zurückkehren zu dürfen,
wo ich eine ſo freundliche Aufnahme gefunden hatte.
„Zurücktehren, mein Herr?“ erwiderte ſie. „Gewiß,
wenn es Ihnen Vergnügen macht. Aber der Weg von
wie in der ganzen übrigen Welt.
Luz wird Ihnen lang werden,“ fügte ſie hinzu und ſah
mich dabei ſo unſchuldig mit den großen, klaren und d a⸗
mals noch ungetrübten Augen an, indem ſie mir ihre
Hand zum Abſchiede reichte. ö
Ich beruhigte Floretten in dieſer Beziehung und ging
fort, während ſie in der tiefen Fenſterniſche ſtehen blieb,
wo das Purpurlicht der untergehenden Sonne ihre ſchöne
Stirn und das goldene Haar wie mit einer Glorie um-
floß. Noch jetzt ſehe ich ſie vor mir ſtehen wie damals,
— das arme Kind! — Aber fort damit! — Der Abend
iſt ſo heiß, — will denn kein kühles Lüftchen kommen!
WwWenn ſie wieder kommen, Monſieur,“ ſagte die alte
Martha, als ſie mich durch den dunklen Gang führte,
„werden Sie der erſte Gaſt ſein, den wir ſeit vier Jah-
ren geſehen haben.“
Die Alte war eine heitere, geſchwätzige Frau, von un-
endlicher Anhänglichkeit für die faſt erloſchene Familie de
l'Heris beſeelt, und lebte jetzt nur für den letzten Spröß-
ling derſelben, das einſame, verwaiſte Kind.
„Ja, ja,“ fuhr ſie fort, „woher ſollten uns auch Gäſte
kommen? Diejenigen, welche mir recht wären, würden
ſchlechte Geſellſchaft für Demoiſelle Florette ſein, und die,
welche ſie ſuchen ſollten, kommen nicht. Ich erinnere mich
der Zeit, Monſieur, als die Höchſten in allen Departe-
ments froh waren, auf die Einladung der Familte de
PHeris kommen zu dürfen; aber Generationen ſind ſeit-
dem verſchwunden, und Gold und Ländereien ebenfalls,
und wenn man nicht mehr bewirthen kann, — was küm-
mern ſich dann die ehemaligen Gäſte um den verarmten
Wirth! Das iſt hier in den Pyrenäen eben ſo gut wahr,
Ich habe nicht ſtebzig
Jahre gelebt, ohne dieſe Erfahrung zu machen. Wäre
mein Kind noch die Erbin des früheren Glanzes der Fa-
milie de l'Heris, ſo würden ſich genug Bewerber um ſie
drängen; allein ſie lebt mit mir, einer alten Bauersfrau,
ihrer einzigen Gefährtin und Dienerin, verlaſſen in dieſen
Ruinen, und Niemand kümmert ſich um ſie, als von Zeit
zu Zeit die frommen Schweſtern des nahen Kloſters,
unter deren Zahl ſie endlich auch ihre letzte Zuflucht wird
ſuchen müſſen.“ ö
Sie öffnete mir die Pforte, an die ich zwei Stunden
vorher mit ſo wüthender Gewalt gepocht hatte, ich dankte
für die genoſſene Gaſtfreundſchaft, — denn Geld wollte
ſie nicht annehmen, — wünſchte ihr einen guten Abend
und ritt den Weg nach St. Sauveur hinab und weiter
nach Luz, während ich nicht ohne Mitleid an das junge
Leben dachte, das, kaum erblüht, ſchon beſtimmt war, in“
einem Kloſter zu verwelken. Jedes andere Loos, dachte
ich, wäre beſſer für ſie. Die kindliche Liebenswürdigkeit
des jungen Mädchens und die Sonderbarkeit ihrer Lage
intereſſtirten mich, und ich hoffte, mir noch manchen langen
Sommerabend in ihrer Geſellſchaft zu verkürzen, wenn
ich der Gemſenjagd und meiner Palette müde war. Auf
jeden Fall beſaß ſie mehr Friſche und Reize als die Schö-
nen von Caux Bonnes.
Am folgenden Morgen erinnerte ich mich ihrer Er-
laubniß und meines Verſprechens und verließ Luz, um
den Bergpfad zum Nid de P'Aigle, „des Adlers Horſt“,