Dr.Marianne Neuhaus-Ahrends
UBH
"Lum Sohphoh". '
Shillong,
Assam, Indien.
Mein sehr verehrter Herr Professor!
Es sind nur wenige Wochen vergangen seit ich meinem
Vater meinen Glückwunsch zu seinem 70.Geburtstag sandte. Ein
Zeichen unserer Zeit: man kann mit seinen nächsten Angehörigen,
wenn überhaupt, nur noch brieflich verkehren. Und da es eine
Tradition in meinem Elternhaus ist, besonders von meinem Vater
gepflegt, den Glückwunsch in der altbewährten lateinischen For-
mel auszudrücken, so möchte ich auch Ihnen gegenüber die ver-
traut gewordenen Worte an den Anfang meines Briefes setzen:
gratulor tibi ex intima animi sententia.
Ja, zu was beglückwünsche ich Sie eigentlich? Dazu,dass
Sie 70 Jahre alt geworden sind, das biblische Alter erreicht
haben, auf ein Leben voll Muhe und Arbeit zurückblicken können?
Ist es heutzutage etwas so Erstrebenswertes 70 Jahre alt zu
werden? Das lässt sich wohl nur individuell beantworten. Mir
aber scheint es, dass ein Mann, wie gross auch immer die Trüm-
merhaufen in seinem eigenen Leben geworden sein mögen, beglück-
wünscht werden darf, von dem eine so grosse Wirkung, Zuversicht
und Beruhigung ausgeht, dass die Nachricht von seinem noch am
Leben sein und wieder frei arbeiten dürfen Menschen in den fern-
sten Erdteilen erschüttern konnte und mit grosser Freude erfül-
len. Ich spreche da von mir. Als nach der jahrelangen Abgeschie
denheit von Freunden und Ereignissen in Deutschland Ende 1946
zum ersten Mal die Nachricht mich erreichte,dass Sie, Herr Pro-
fessor, noch am Leben seien und wieder in Heidelberg arbeiteten,
da hat mich die Nachricht nicht nur erschüttert - wir Ausgewan-
derten werden es wohl kaum noch lernen, uns nicht von unerwarte-
ten Nachrichten aus der Heimat erschüttern zu lassen - und von
Herzen gefreut, sondern zugleich mit einer grossen Beruhigung
erfüllt.Immer wieder habe ich laut aussprechen müssen: Radbruch
lebt noch, Radbruch ist durchgekommen. Radbruch darf wieder in
der Öffentlichkeit arbeiten! Ja, dann ist wohl doch noch nicht
alles verloren!
Der Kreis derer, die den Anlass Ihres 70.Geburtstags
dazu benutzen wollen, ihre Beziehung zu Ihnen aufs Neue deutlich
werden zu lassen, wird ein beglückend grosser sein. Mir ist es
nicht vergönnt gewesen, Sie persönlich kennen zu lernen, d.h.
über die 3 oder 4 Male hinaus, die ich überhaupt Gelegenheit
hatte, mit Ihnen zu sorechen,eine persönliche Beziehung zu ent-
wickeln. Ich gehöre also zu einem der mehr äusseren Ringe des
Radbruch-Kreises. Wenn aber der Einfluss des Zusammentreffens
mit Ihnen auf einen Menschen des mehr äusseren Ringes schon so
stark gewesen ist, wie ich es hoffe ein wenig in den folgenden
teilen zum Ausdruck bringen zu können, wieviel stärker muss er
es auf die gewesen sein, die zum inneren Kreise gehören?
Meine Studienzeit begann 1930 in Heidelberg. Was ich ei-
gentlich studieren wollte, wusste ich anfangs nicht. Ich hatte
als 16 gärige mich eindeutig für soziale Arbeit und Erziehungs-
wesen entschieden (für die damals 16Jährige kamen als zu Erzie-
hende wohl nur Kinder in Frage), hatte mich einige Jahre theore-
UBH
"Lum Sohphoh". '
Shillong,
Assam, Indien.
Mein sehr verehrter Herr Professor!
Es sind nur wenige Wochen vergangen seit ich meinem
Vater meinen Glückwunsch zu seinem 70.Geburtstag sandte. Ein
Zeichen unserer Zeit: man kann mit seinen nächsten Angehörigen,
wenn überhaupt, nur noch brieflich verkehren. Und da es eine
Tradition in meinem Elternhaus ist, besonders von meinem Vater
gepflegt, den Glückwunsch in der altbewährten lateinischen For-
mel auszudrücken, so möchte ich auch Ihnen gegenüber die ver-
traut gewordenen Worte an den Anfang meines Briefes setzen:
gratulor tibi ex intima animi sententia.
Ja, zu was beglückwünsche ich Sie eigentlich? Dazu,dass
Sie 70 Jahre alt geworden sind, das biblische Alter erreicht
haben, auf ein Leben voll Muhe und Arbeit zurückblicken können?
Ist es heutzutage etwas so Erstrebenswertes 70 Jahre alt zu
werden? Das lässt sich wohl nur individuell beantworten. Mir
aber scheint es, dass ein Mann, wie gross auch immer die Trüm-
merhaufen in seinem eigenen Leben geworden sein mögen, beglück-
wünscht werden darf, von dem eine so grosse Wirkung, Zuversicht
und Beruhigung ausgeht, dass die Nachricht von seinem noch am
Leben sein und wieder frei arbeiten dürfen Menschen in den fern-
sten Erdteilen erschüttern konnte und mit grosser Freude erfül-
len. Ich spreche da von mir. Als nach der jahrelangen Abgeschie
denheit von Freunden und Ereignissen in Deutschland Ende 1946
zum ersten Mal die Nachricht mich erreichte,dass Sie, Herr Pro-
fessor, noch am Leben seien und wieder in Heidelberg arbeiteten,
da hat mich die Nachricht nicht nur erschüttert - wir Ausgewan-
derten werden es wohl kaum noch lernen, uns nicht von unerwarte-
ten Nachrichten aus der Heimat erschüttern zu lassen - und von
Herzen gefreut, sondern zugleich mit einer grossen Beruhigung
erfüllt.Immer wieder habe ich laut aussprechen müssen: Radbruch
lebt noch, Radbruch ist durchgekommen. Radbruch darf wieder in
der Öffentlichkeit arbeiten! Ja, dann ist wohl doch noch nicht
alles verloren!
Der Kreis derer, die den Anlass Ihres 70.Geburtstags
dazu benutzen wollen, ihre Beziehung zu Ihnen aufs Neue deutlich
werden zu lassen, wird ein beglückend grosser sein. Mir ist es
nicht vergönnt gewesen, Sie persönlich kennen zu lernen, d.h.
über die 3 oder 4 Male hinaus, die ich überhaupt Gelegenheit
hatte, mit Ihnen zu sorechen,eine persönliche Beziehung zu ent-
wickeln. Ich gehöre also zu einem der mehr äusseren Ringe des
Radbruch-Kreises. Wenn aber der Einfluss des Zusammentreffens
mit Ihnen auf einen Menschen des mehr äusseren Ringes schon so
stark gewesen ist, wie ich es hoffe ein wenig in den folgenden
teilen zum Ausdruck bringen zu können, wieviel stärker muss er
es auf die gewesen sein, die zum inneren Kreise gehören?
Meine Studienzeit begann 1930 in Heidelberg. Was ich ei-
gentlich studieren wollte, wusste ich anfangs nicht. Ich hatte
als 16 gärige mich eindeutig für soziale Arbeit und Erziehungs-
wesen entschieden (für die damals 16Jährige kamen als zu Erzie-
hende wohl nur Kinder in Frage), hatte mich einige Jahre theore-