Falkenberg, den 2.1.1904.
V
Auf Ihren Aufsatz in den Kantstudien müssen wir nun leider ver-
zichten. Sie haben mich durch die Bemerkungen Ihres Briefes schon
sehr neugierig auf seinen Inhalt gemacht. Ich habe Frau Webers Buch
noch einmal durchgeflogen, um mich zum Empfang Ihres Artikels in eine
möglichst kritische und kampflustige Stimmung zu versetzen. Sie wer-
den heute nicht sehr aufgelegt sein, lange Ergüsse über diese Dinge zu
vernehmen. Ich will nur siviel bemerken, dass es mir als eine sehr
interessante Aufgabe erscheint, die Beziehungen von Fichtes Eigentums-
begriff zur Kantisehen Philosophie schon für die »Beitrüge» nachzu-
weisen. Sie können Ja, wennjSie Ihren Aufsatz nicht wo anders oder in
einem spateren Kantstudienheft veröffentlichen wollen, ihn seinem
Hauptinhalt nach in Ihr Fichtebuch hinübernehmen. Gespannt war ich auch
auf Ihre Darlegung eines »strengen begrifflichen Zusammen-
hanges » zwischen »ethischem Individualismus» und »wirtschaftlichem
Socialismus schon in den»Beiträgem*. Es würde hierbei Ja auch die
allgemeine Wahrheit wieder hervortreten, dass Individualismus und wirt-
schaftlicher Socialismus so wenig Gegensätze sind, dass vielmehr der
letztere eine Folge des ersteren ist. Die ganze Kontroverse über in-
dividualistische und socialistische Wirtschaftsordnung ist eine interne
Angelegenheit einer rein individualistischen Weltanschauung. Die libe-
ralistische Wirtschaftspolitik wollte das Individuua^aus der korporativen
Gebundenheit und der feudalen Hörigkeit befreien, da«- Socialismus hat
zum Ziel, das in ökonomische Knechtschaft herabgesunkene und nur als
Mittel für eine kleine kapitalistische Oberschicht existierende prole-
tarische Individuen»"aus dem Klassenjoche und damit zugleich die Mensch-
heit von der Klassenherrschaft überhaupt zu erlösen. Dies sprach Marx
schon im »Kommunistischen Manifest» aus, und am glänzendsten hat Lassal-
le in seiner Rede »über den besonderen Züsammenhhng der gegenwärtigen
Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes » den Gedanken ent-
wickelt, dass die Sache des vierten Standes, »In dessen Herzfalten kein
Keim einer neuen Bevorrechtung mehr enthalten ist», wben deshalb gleich-
bedeutend mit der Sache des ganzen Menschengeschlechtes sein muss. Also
auch nach der Ansicht des Sozialismus ist der Staat in letzter Linie
für die Breiheitszweeke des Individuums da. Der Sozialismus Ist im Laufe
der Geschichte auf individualistische Theorien aller-verschiedenster
Art gestützt worden. Oft war es der gröbste Hedonismus; aber wo sich
die Spekulation zur Höhe emporschwingt, lebt aueh im Sozialismus die
unsterbliche Seele des Kantisehen und Ficfeteschen »Individualismus» fort.
Hieraus lässt sichrentnehmen, welch richtiger Kern den Jetzt viel-
fach beliebten Erörterungen über »Kant und den Sozialismus» zu Grunde
liegt. Allerdings führt ein gerader Weg von der ethischen Idee des Sozia-
lismus zurück zu Kants Postulat, die Menschheit in der Person eines Jeden
nicht bloss als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck anzusehen.
Allein von der Kantisehen Ethik aus vorwärts gibt es.eben zwei Wege,
und Kant ist den nichtsozialistischen gegangen, und ferner-rsf-es
V
Auf Ihren Aufsatz in den Kantstudien müssen wir nun leider ver-
zichten. Sie haben mich durch die Bemerkungen Ihres Briefes schon
sehr neugierig auf seinen Inhalt gemacht. Ich habe Frau Webers Buch
noch einmal durchgeflogen, um mich zum Empfang Ihres Artikels in eine
möglichst kritische und kampflustige Stimmung zu versetzen. Sie wer-
den heute nicht sehr aufgelegt sein, lange Ergüsse über diese Dinge zu
vernehmen. Ich will nur siviel bemerken, dass es mir als eine sehr
interessante Aufgabe erscheint, die Beziehungen von Fichtes Eigentums-
begriff zur Kantisehen Philosophie schon für die »Beitrüge» nachzu-
weisen. Sie können Ja, wennjSie Ihren Aufsatz nicht wo anders oder in
einem spateren Kantstudienheft veröffentlichen wollen, ihn seinem
Hauptinhalt nach in Ihr Fichtebuch hinübernehmen. Gespannt war ich auch
auf Ihre Darlegung eines »strengen begrifflichen Zusammen-
hanges » zwischen »ethischem Individualismus» und »wirtschaftlichem
Socialismus schon in den»Beiträgem*. Es würde hierbei Ja auch die
allgemeine Wahrheit wieder hervortreten, dass Individualismus und wirt-
schaftlicher Socialismus so wenig Gegensätze sind, dass vielmehr der
letztere eine Folge des ersteren ist. Die ganze Kontroverse über in-
dividualistische und socialistische Wirtschaftsordnung ist eine interne
Angelegenheit einer rein individualistischen Weltanschauung. Die libe-
ralistische Wirtschaftspolitik wollte das Individuua^aus der korporativen
Gebundenheit und der feudalen Hörigkeit befreien, da«- Socialismus hat
zum Ziel, das in ökonomische Knechtschaft herabgesunkene und nur als
Mittel für eine kleine kapitalistische Oberschicht existierende prole-
tarische Individuen»"aus dem Klassenjoche und damit zugleich die Mensch-
heit von der Klassenherrschaft überhaupt zu erlösen. Dies sprach Marx
schon im »Kommunistischen Manifest» aus, und am glänzendsten hat Lassal-
le in seiner Rede »über den besonderen Züsammenhhng der gegenwärtigen
Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes » den Gedanken ent-
wickelt, dass die Sache des vierten Standes, »In dessen Herzfalten kein
Keim einer neuen Bevorrechtung mehr enthalten ist», wben deshalb gleich-
bedeutend mit der Sache des ganzen Menschengeschlechtes sein muss. Also
auch nach der Ansicht des Sozialismus ist der Staat in letzter Linie
für die Breiheitszweeke des Individuums da. Der Sozialismus Ist im Laufe
der Geschichte auf individualistische Theorien aller-verschiedenster
Art gestützt worden. Oft war es der gröbste Hedonismus; aber wo sich
die Spekulation zur Höhe emporschwingt, lebt aueh im Sozialismus die
unsterbliche Seele des Kantisehen und Ficfeteschen »Individualismus» fort.
Hieraus lässt sichrentnehmen, welch richtiger Kern den Jetzt viel-
fach beliebten Erörterungen über »Kant und den Sozialismus» zu Grunde
liegt. Allerdings führt ein gerader Weg von der ethischen Idee des Sozia-
lismus zurück zu Kants Postulat, die Menschheit in der Person eines Jeden
nicht bloss als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck anzusehen.
Allein von der Kantisehen Ethik aus vorwärts gibt es.eben zwei Wege,
und Kant ist den nichtsozialistischen gegangen, und ferner-rsf-es