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Abb. 185

Selbſtverſtändlich ließ ſich in dem überkuppelten Zentralwerk trotz aller
Dämpfung die Wacht der reinen Vertikalität nicht reſtlos ausſchalten. Jeder
wird eine ſenkrecht ſteigende Bewegung irgendwie empfinden. Doch woran ein
italieniſcher Barockiſt ſich hätte genügen laſſen, das gibt für Bähr erſt die über-
dingliche, imaginäre Achſe ab, um die her um ſich die eigentliche Notation vollzieht,
an der ſich die runde Geſtalt des pfeilerumkränzten Wittelraumes zu lichter Höhe
emporwindet und frei entfaltet. (Eine ähnliche Spiralbewegung wird dem Augen-
erlebnis im lichtdurchfloſſenen Hochraum der Ettaler Kirche vermittelt.)

Den vielfachen Reihen der Emporen mit ihren in jedem Rang amphitheatra-
liſch abgeſtuften Bänken fällt die beſondere Aufgabe zu, als Gleitbahnen des
Blickes zu dienen. An ſich ſind die verſchiedenen Ränge ohne ſichtbare Verbin-
dung horizontal durchgeführt. Bei intenſivem Erleben des Raumganzen aber ſchei-
nen ſich plötzlich die ſtarren Gleiſe der Galeriebrüſtungen zu verſchieben, eine
ſchräge Richtung anzunehmen und allmählich aneinander anzuſchließen wie Wei-
chen, die zwei benachbarte Schienenſtränge bei entſprechender Einſtellung mitein-
ander verbinden. Es vollzieht ſich eine Art optiſcher Täuſchung. Die Blickbahnen
führen in kreiſendem Schwung nach oben. Die Viſion der Aufwärtsbewegung
ſämtlicher Kurven iſt ermöglicht. Tatſächlich ſichtbare Form geworden iſt die
Spiralbewegung in der Wendeltreppe, die zwiſchen den beiden Schalen der Ober-
kuppel hinaufführt bis zur Laterne. Die Windungen dieſer Treppe können bruch-
ſtückweiſe in den großen fenſterartigen Offnungen der inneren Schale der Ober-
kuppel verfolgt werden.

Das Erlebnis der Dynamik des Ganzen iſt gleich einer ſich allmählich mit
ſteigender Energie emporſchraubenden Flugmaſchine, die plötzlich in eine Wolken-
ſchicht hineinbricht, ſich über ſie erhebt, von Zeit zu Zeit in immer bedeutenderer
Höhe noch ſichtbar bleibt, bis ſie ſich im blauen Ather verliert. Der Wolkenſchicht
mit Offnung entſpricht genau das Opäon in der raumabſchließenden unteren Wöl-
bung über der Gemeindekirche des Bährſchen Werkes.

Zbwiſchen dem das Chorhaupt der Frauenkirche flankierenden Pfeilerpaar
ſetzen die Emporen aus. Der Annex des Chores ſcheint eine Bucht des Haupt-
baſſins. Wie durch die Steilenge geöffneter Schleuſen bricht die Flut der Be-
wegung des Zentralraumes in das Choroval ein und führt hier nochmals im
rauſchenden Strudel einen wirbelnden Tanz auf. Hängt die Dynamik beider
Räume auch unverbrüchlich zuſammen, ſo ergibt ſich doch in der Bucht des Chores
ein mannigfaches Spiel reizvoller Nebenwellen, das in den verſchiedenen Kurva-
turen der Galerien, Emporen und Treppenläufe kontrapunktiſch ausgedrückt iſt.

Im Chor iſt auch aller Pomp einer rauſchenden Dekoration konzentriert. Im
Hauptraum hatte Bähr aus naheliegenden Gründen auf Entfaltung reicheren
Schmuckes verzichten müſſen. An bunter Pracht ſüddeutſcher Bauten gemeſſen,
wirkt die Dekoration im Chor der proteſtantiſchen Predigtkirche von Dresden
freilich immer noch ſehr maßvoll. Hier wäre der Ausdruck „Verzopfung“ ange-
bracht! Für ſchöne Aberflüſſigkeiten war kein Platz. Dekorativ ausgewertet ſind
eigentlich nur die kultlich unumgänglich nötigen Requiſiten. Die Kanzel iſt am

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