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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 8.1860

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Die Jllustrirte Welt.

dieses Landes wesentliche Reformen zu Stande, die dem Natur-
und Kunstgenuß, der uns dort geboten wird, auch den Kom-
fort des Reiselebens unterbreiten.

Oie GolÄdiebe.
(Fortsetzung.)
Die Familie des Doktors konnte sich nicht mehr aus dem
Verdeck ergehen, wo betrunkene Mädchen und weinselige
Männer sich wohl zehnmal des Tages prügelten. Mrs. Iwans
mußte sich entschließen, in ihrer Koje zu bleiben. Zu dieser
Widerwärtigkeit gesellte sich nur eine zu wohl begründete
Besorgniß um des Doktors Gesundheit. Der Arme hatte
nicht Zeit zum Essen. Ost ließ man ihn wegen gar nichts
rufen. Er beklagte sich nicht, aber er verlor die Farbe. Den
jungen Mädchen aber schien diese ganze Umgebung so schreck-
lich, daß sie anfingen London zu vermissen, und jene goldncn
Träume verschwanden, welche eine große Reise immer in
jugendlichen Herzen erweckt. So lange man sich noch in den
europäischen Gewässern befand und es kälter blieb, kam es
noch nicht gerade zum Aeußersten. Aber als man die Linie
passirte und die Hitze drückend wurde, nahm die Unordnung
einen ernsteren Charakter an. Einzelne Frauenzimmer ergingen
sich kaum angekleidet. Die Männer natürlich machten die
Unordnung nicht geringer, und es wurde geradezu unerträg-
lich für den gesitteten Theil der Passagiere. Der Doktor,
welcher sich schon zu wiederholten Malen über seine Kajüten-
nachbarinnen beklagt hatte und immer schlecht ausgenommen
worden war, entschloß sich zu einem entscheidenden Schritt
bei dem Kapitän. Dich war ein barscher Mann ohne alle
Erziehung und durchaus der Reisenden würdig, die er mit
sich führte. Er grollte dem Doktor, weil dieser die Stelle
erhalten, für die er sich vergebens bemüht hatte einen Protegö
von sich durchzusctzcn. Air. Iwans erklärte dem Kapitän,
daß er seinen Dienst als Schisssarzt nicht fortversehen werde,
wenn man nicht mehr Rücksichten für seine Familie habe.
Der Kapitän, da er sich selbst nicht achtete, konnte auch
keinen Andern achten, und hieß ihn sich packen. „Sie halten
sich für unentbehrlich," sagte er zu ihm, „Sie täuschen sich.
So wissen Sie denn, daß wir Sie ganz gut entbehren kön-
nen. Sie wollen den Dienst nicht mehr versehen, gut, so
lassen Sie's bleiben; ich habe schon Jemand unter der Hand,
der Sie zu ersetzen vermag, ja, der Ihre Funktionen so gut
oder noch besser als Sie versehen wird." Es befand sich
nämlich am Bord des Marco-Polo eine Art von Charlatan,
halb Arzt, halb Zahnarzt, der viel Unheil anrichtete und sich
mit den Liederlichsten unter den Passagieren zu betrinken
pflegte. Dieser Würdige war der Nachfolger, den der Ka-
pitän schon längst dem Doktor Iwans auf die Zeit bestimmt
hatte, wo dieser, aufs Aeußerste gebracht, seine Entlassung
nehmen würde. In einem Augenblick durchlief die große
Neuigkeit das Schiff von einem Ende zum andern. Der
Doktor war für seine Kranken voll Güte gewesen. Aber
man hatte von den Anstrengungen gehört, die er gemacht,
um ein wenig Ordnung und Anstand ans dem Verdeck auf-
recht zu erhalten, und dieß war ein unverzeihliches Verbre-
chen in den Augen dieser zügellosen Menge. Jedermann
nahm Partei für den Kapitän. Der Doktor hatte alle Die
zu Feinden, die er sich verpflichtet hatte, mit alleiniger Aus-
nahme einer Frau, welcher er die sorgsamste Pflege hatte
angedeihcn lassen. Vier Wochen, nachdem sie England
verlassen, genaß sie eines so zarten Mädchens, daß der
Tokior befürchtet hatte, das erste L-chlingern des Schiffes
möchte es tödten. Dieß war die einzige Kranke, um dcret-
willen er die Niederlegnng seines Amtes bedauerte. Aber
sie befand sich ganz im Vordertheile des Schiffes, und um
zu ihr zu gelangen, hätte er müssen alle Säle durchwan-
dern und sich den Spöttereien, vielleicht gar den Insulten
dieser zu Allem fähigen Menge aussetzen. Zudem hatte er

seinen Nachfolger überall Herumlaufen und seine Dienste an-
bieten sehen, und so zweifelte er nicht, daß er sich auch der
kleinen Mutter annchmen werde, wie er sie nannte, weil sie
fast noch ein Kind war.
Die Hitze, welche immer unerträglicher wurde, änderte
mit einem Male die Gestalt der Dinge. Das Fieber und
die Blattern brachen aus. Die Frau in den Wochen war
die erste, welche über Kopfschmerzen klagte. Der Zahnarzt
verordnete ein Bad. Man zog sie in einem so traurigen
Zustand aus dem Wasser, daß Jedermann sah, daß es mit
ihr zu Ende gehe. Sie erregte allgemeines Interesse. In
wenigen Augenblicken waren unter dem Einflüsse der Furcht
Alle noie umgewandelt. Der Charlatan konnte seine Ver-
wirrung nicht verbergen; er fing an vor der Verantwortung
zu zittern, die auf ihm zu lasten drohte, und in Folge eines
ganz natürlichen Rückschlags richteten sich die Blicke Aller
aus den Doktor, welcher der eingeschüchterten Menge wie ein
Retter erschien. Zwei Kammcrsrancn kamen, dem allgemei-
nen Gefühl gehorchend, zum Doktor und baten ihn, sich zu
der Kranken zu verfügen. Er eilte hin. Lautlos folgten sie
Alle, aber es war zu spät. Als der Doktor in die Koje
trat, wo die Kranke lag, erkannte sie ihn nicht mehr; schon
zeigten sich aus ihrem Gesicht die Vorboten des Todes. Er
wandte sich nach denen um, die ihm gefolgt waren, und un-
willkürlich sagte ihnen sein strenger Blick: „Seht, das ist
euer Werk!" Sie verstanden ihn; bestürzt sahen sie einan-
der an. Die arme Frau lag in den letzten Zügen. Schon
hatte sie die Besinnung verloren und, fast schon die Beute
des Todes, streckte sie noch die Hand ans — nach ihrem
Kinde. Der Doktor verstand dieses hehre Gefühl, er hielt
ihr das kleine Mädchen entgegen, doch wie sich so das kaum
erwachte und das entschwindende Leben gegenüber standen, da
hauchte die Mutter ihren letzten Seufzer aus. — Was nun
mit dem armen kaum acht Tage alten Kinde anfangen? Die
Mutter kannte Niemand. Sie hatte sich ohne Zweifel unter
einem falschen Namen in die Passngierliste eintragen lassen. Man
durchsuchte ihre Effekten. Es fanden sich einige posto rsstanto
nach London adressirte Briefe vor, die indeß keinen Aufschluß
gewährten: die Person, welche sie geschrieben, schien sich selbst
in Geheimnis; zu hüllen. „Ich seh's wohl, arme Kleine!"
sagte der Doktor, indem er die Effekten des Kindes zusam-
mennahm, „Du bist scheint's an mich adressirt, früh genug
sängst Du wenigstens die Beschwerden des Lebens zu tragen
an." Darauf ging er zu den Seinigen. „Hier," rief er
ihnen zu, wie sie ihm entgegen kamen; „hier bringe ich euch
ein Spielzeug, das euch wohl viel Sorge bereiten wird. Aber
seht doch, wie das zappelt! Es möchte gerne leben und hat
doch keine Mutter mehr." Sechs Arme streckten sich zumal
aus, das Kind zu nehmen; die Mutter, als die Erfahrenere,
hatte es erreicht. Von diesem Augenblicke an war Bijou,
wie die beiden Mädchen das Kind getauft hatten, der Gegen-
stand der zärtlichsten Sorgfalt. Auch die übrigen Frauen
unter den Passagieren thaten für die Kleine was sie konnten.
Jedes plünderte seine Lappen, und bald war sie gar stattlich
herausgeputzt.
Das Leben, welches die Familie an Bord führte, war ein
ganz anderes geworden. Die drei Frauen ergingen sich wie-
der auf dem Verdeck. Alles grüßte sie achtungsvoll; selbst
die Verdorbensten nahmen sich zusammen beim Anblick dieser
guten Seelen, die Jedermann sich scheute zu verletzen. Dem
Doktor war es, unterstützt von dem Kapitän, der ihn fast
um Verzeihung gebeten, gelungen, Ordnung einzuführen.
Er hatte eine bessere Reinlichkeit durchgesetzt, den Mißbrauch
der Getränke abgestellt, und so die Krankheiten-, welche an
Bord geherrscht, wenn auch nicht ganz verjagt, doch wenig-
stens bedeutend vermindert. Sein Einfluß war unbegrenzt.
So sehr man ihn verabscheut, so sehr liebte man ihn jetzt.
Wenn er Morgens seine Kajüte verließ, um seine erste Runde
zu machen, paßten sie ihm förmlich ab, um ihm die Hand
zu schütteln. Er kam ihnen immer mit gleicher Güte ent-
gegen und sagte oft zu sich selbst: „Es ist doch sonderbar!
 
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