Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 36.1888

DOI issue:
[Text]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.54536#0232
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Illustrirte Welt.

ausgehalten, bis der Geist ermüdet und der Kopf den
Dienst versagt; das Glück hatte mich begünstigt, ich hatte
Erfolg gehabt. Meine bürgerliche Existenz war gesichert,
eine befriedigende Thätigkeit mir gewiß. Ich hatte mein
Ziel erreicht, eher als ich je gehofft.
„Während der ganzen Zeit meiner Abwesenheit hatte
ich von Luise und den Ihren wenig oder nichts vernom-
men. Anfangs hatte ich, völlig im Unklaren über mich
selbst, nicht den Mut gehabt, an sie zu schreiben. Später
— ,wird man Dir glauben?' hatte ich gedacht. ,Jst es
möglich, auf dem Papier, schwarz auf weiß die seelischen
Regungen deutlich zu machen, deren Opfer Du geworden,
die allein Deine Schweigsamkeit entschuldigen?' Ich hatte
nicht gewagt, das Versäumte nachzuholen, und mich damit
getröstet, daß der persönliche Kontakt, die Schrift der
Wahrheit auf meinem Gesicht, alle jene kleinen, unfaß-
baren Einzelheiten und Beziehungen von Mensch zu
Mensch im persönlichen Verkehr rasch alle Verstimmung
lösen und über alle Schwierigkeiten hinweghelfen würden.
So war jede direkte Verbindung zwischen uns unterbro-
chen, und was ich durch Vermittlung Dritter in Erfahrung
gebracht, so geringfügig, daß es kaum genügte, mir auch
nur im Umriß ein Bild dessen zu geben, was zu wissen
für mich von Interesse gewesen. Der Vater hatte sich in
selbstgewählter Verbannung auf das Land zurückgezogen,
Frau und Tochter waren ihm gefolgt. Selten hatten sie
ihr ländliches Heim mit der Stadt vertauscht; waren sie
einmal hereingekommen, so hatten sie fast ausschließlich
mit einigen wenigen eng befreundeten Familien verkehrt
und selbst kein Haus gemacht. So war, wie es schien,
Luise einsamer geblieben als jedes andere Mädchen ihres
Alters und wenig in den Kreisen der großen Welt gesehen
worden. Trotzdem interessirte man sich allgemein für sie;
mau rühmte ihre große musikalische Begabung, ihre gegen
alle, alt und jung, arm und reick, vornehm und gering
gleich freundliche und doch vornehme Haltung, ihre eigen-
tümlich anziehende Erscheinung.
„Ich hatte sie noch nicht wieder gesehen. Ich wußte,
daß sie mit ihrer Mutter in der Stadt war, aber wo sie
treffen, mit ihr Zusammenkommen? Durfte ich sie auf-
suchen, trotzdem der Oheim mir sein Haus verboten? Ich
wagte cs nicht und wollte es nicht. Erfolglos durchsuchte
ich eine Reihe von Abenden alle mir zugänglichen SalonS,
Theater und Konzerte — nirgends fand ich sic. Es schien
fast, als lebe sie noch einsamer und eingczogencr als früher
und vermeide selbst die von ihr bevorzugten Kreise.
„Dann plötzlich hörte ich, daß ich sie am Abend im
Hause gemeinsamer Bekannten werde sehen können. Nasch
nahm ich die mir gewordene Einladung an.
„Rechtzeitig machte ich mich auf den Weg. Links und
rechts zu beiden Seiten des mit Teppichen belegten Auf-
gangs war eine ganze Reihe von Equipagen anfgefahrcn,
in der Garderobe ein Gedränge wie an einem Ball-
abende; die Gesellschaft war größer, als ich erwartet. Uni
so besser, so war ich um so freier. Rasch ging ich die
Treppe hinauf, öffnete die Thür, schaute mich einen Augen-
blick um, begrüßte die Wirte und mischte mich unter die
Menge. Ich ging einmal im Saale auf und ab, musterte
aufmerksam jede an mir vorübergehende Dame — ich fand
sie nicht. Ich wartete noch eine Weile und machte noch
einmal dieselbe Promenade; ich schien vergebens gekommen!
lind schon wollte ich in einer dunklen Ecke ermüdet mich
meinen Träumereien überlassen, als ich sie plötzlich sah --
in die Thür tretend, mit großen Augen die Gesellschaft
überfliegend.
„Wie schön sie geworden war — viel schöner, als ich
hatte erwarten können! Und doch lag in ihren reinen,
edlen Zügen ein so ernster, thränenschwerer Ausdruck, über
ihrer schlanken, weichen Gestalt, in der Haltung ihres
Kopfes und der Schultern ein Hauch so müder, in sich
versenkter Trauer, daß diesem gegenüber selbst ihre Schön-
heit kaum zur Geltung kam. Wie mußte es in diesem
Gemüte aussehen, welche Qualen es durchwühlt, welche
Schmerzen cs ertragen haben?
„Eine tiefe Röte übergoß ihr ganzes Gesicht, als sie
mich erblickte; dann wurde sie totenbleich und schien hastig
sich abwenden zu wollen. Sie besann sich indes eines
andern, kehrte sich mir langsam wieder zu und erwartete
in eigentümlich starrer, regungsloser Haltung meine An-
rede. Auch mir stockte das Wort im Munde, das Herz
schlug mir plötzlich zum Ersticken, und erst nachdem ich
bereits eine ganze Weile wortlos ihre Hand in der meinen
gehalten, gelang cs mir, meiner Bewegung so weit Herr
zu werden, um Luise meine Freude über unser Wieder-
sehen auSsprcchen zu können. Sie erwiderte einige wenige
kurze Worte, dann schwieg sie, glitt mit dem Auge müde
über mich hinweg, atmete noch einmal hastig auf und
entfernte sich nach einigen Augenblicken mit einer stummen
Verbeugung.
„Eine halbe Stunde verging. Rastlos trieb ich mich
in den Säten umher, ohne mir bewußt zu werden, was
ich dachte und that. Dann sah ich Luise plötzlich, aber-
mals, am Klavier stehend, mit einem Notenblatt m der
Hand, ihr zur Seite ein bekannter Musiker, augenschein-
lich um sie zu begleiten. Noch immer lag em Hauch
müden Ernstes auf ihrer Stirn, aber ihre Haltung war
flüssiger und belebter als vorher, ihr Auge ruhig und klar,
wie ich es immer gekannt.

„Der Pianist setzte sich und intonirte leise, Luise ver-
neigte sich und sang mit tiefer, weicher Stimme:
„.Es ist mm Abend worden.
Wie weil der Weg, wie kalt die Luft!
Ringsum kein Ton, kein Hauch, kein Laut,
Kein Vögelchen im Hage rüst:
Schlas wohl!
Ich bin so müd und so allein!
Auch du? Bei dir, ach, möcht' ich sein!
Doch du bist weit und ich allein —
So ganz allein.
Schlas Wohl!
Jed' Vögelchen hat seine Statt:
Doch ich? — Ach nein, ich bin allein!
Ich liebte einst und hasste viel —
Doch, ach, cS hat nicht sollen sein!
Ade!

Ich war noch spät vor deiner Thür,
Da hört' ich zechen, jnbilireu.
Du wolltest kommen noch zu mir —
Doch kamst Lu nicht. Ihr spielt' zu Vieren.
Was du gesagt, ich wuß!' cs längst,
Haft du gelogen, stech gelogen.
Wenn du das Vögelchen nur sängst.
Wer fragt danach, ob es betrogen?
Betrogen! Eine Dirne nur!
Wer hört es, ach, und lacht nicht ihrer!
Doch übcrm Mond, der weiß es wohl.
Wer schuldig und wer der Verführer.
Das Spiel ist aus! Einst kommt der Tag,
Da weinst auch du in Angst und Schmerzen.
O arge Not, o bitt're Schmach!
O Angst in dem zertretenen Herzen.'
„Sie schloß mit dem Liede des Harfners aus Wilhelm
Meister:
„.Wer nie sein Brot mit Thränen aß.
Wer nie die kummervollen Nächte
Aus seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Ihr führt ins Leben ihn hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden.
Dann überlaßt ihr ihn der Pein,
Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.'
„Eine Viertelstunde später hatte Luise das Haus ver-
lassen; nach einigen Minuten war ich ihr gefolgt.
„Das war asiso das Wiedersehen, von dem sich so viel
geträumt, das bis ins einzelne auSzumalen so häufig die
einzige Beschäftigung, die einzige Freude meiner einsamen
Stunden gewesen! Ein kühler Händedruck, einige kon-
ventionelle Redensarten! Hätte eS weniger sein können?
„Ich sah Luise von nun an häufiger, aber wo ich auch
mit ihr zusammcnkam, ihre Haltung blieb stets dieselbe.
Kühl empfing sie mich, kühl glitt ihr Auge über mich
hinweg, kühl lächelte ihr Mund, kühle Antworten wurden
meinen Fragen. Hatte sie die Zurückhaltung, die ich mir
notgedrungen auferlegt, mißdeutet, oder hatte sie ihrer
ganzen Natur nach sich so verändert, daß ich diejenige,
die ich früher gekannt, nicht in ihr wieder zu finden ver-
mochte, daß ich selber schuldlos, durch Wandlungen von
ihrer Seite, ihr fremd geworden und ich eine Statue
wiedergcfunden, wo ich warmes Leben verlassen? Und
doch hatte sie jene Lieder mit so leidenschaftlicher Hingabe
gesungen, fast als singe sie ihr eigenes Geschick, ihr eigenstes
Empfinden.
„Und wiederum uach langer Zeit stand ich in dem
kleinen Entree zu Luisens Zimmer, daS mir so wohl-
bekannt, in welchem ich so viele Stunden verträumt, so
viele glückliche Augenblicke verlebt hatte. Rechts ein kleines
Sofa, vor diesem ein Tisch mit einem Teppich darüber,
links ein geöffnetes Pianino, im Hintergründe ein weißer
Marmorkamin, ein Schritt von diesem entfernt ein Bücher-
schrank mit einer Shakespearebüste auf der einen und einer
Goethebüste auf. der andern Ecke. Und dann Luise selbst!
Wie deutlich stand mir ihr süßes Kindcrgesichtchen vor
Augen — mit den Weichen Zügen, den großen Augen und
den feinen, sanft geschwungenen Lippen. Wie verschieden
von der dunklen, ernsten Mädchengestalt dort am Fenster!
Konnte der, welcher die eine geliebt, auch die andere lieben?
Konnte ein und dasselbe Herz zwei Menschen umfassen,
die so wenig sich glichen, wie diese und jene? Ich hatte
auch jene geliebt, fast so lange ich sie gekannt, aber jetzt
wußte ich es — fast wie eine Schwester. Diese aber liebte
ich als Weib und ich liebte sie mit einer Leidenschaft, über
deren Tiefe und Ungestüm ich selbst erschrak.
,„Jch bin nicht gekommen,' begann ich, ,um nachzu-
holen, was ich versäumt und vielleicht nicht hätte versäumen
sollen. Ich bin nicht gekommen, um wieder Eingang zu
suchen in euer Haus und den Versuch zu machen, den
Oheim zu versöhnen. Ich komme zu Dir, mit einer Frage
an Dein Herz.'
„,An mich?'
„,An Dich! ES hat einst eine Zeit gegeben, in der
ich annehmen mußte, daß ich Dir mehr sei als nur der
Verwandte, als der Freund Deines HauseS; offen lag
Dein Herz vor mir und ich las in ihm wie in einem auf-
geschlagenen Buche. Ich verstand nicht, waS ich las, und
thöricht genug habe ich den rechten Augenblick versäumt
und muß nun büßen. Gibt eS keine Sühne? Kannst
Du nicht vergessen? Vergib mir, denn ich liebe Dich und

223

liebe Dich vielleicht nur um so mehr, je tiefer ich die eigene
Schuld jetzt fühle und je schwerer sie mich drückt.'
„Find das zu sagen findest Du erst jetzt die Zeit?
Zwei Jahre und noch mehr hast Du gebraucht, nm zu
dieser Stunde Dich zu entschließen und zu wissen, was Du
jetzt so gütig bist, mir mitzuteilen! Das klingt, als wolltest
Dkl mich höhnen und dafür strafen, daß ich einst mein
Herz zu sehr verriet und Dir zu sehr vertraute. Auch ich,
ich habe inzwischen Zeit gehabt, mich auf mich selber zu
besinnen. Du glaubst vielleicht, Du hättest nur allein
gelernt, Dich besser zu verstehen! Auch ich habe gelernt!'
— Thränen erstickten plötzlich ihre Stimme. — Hs wäre
besser — lebe wohl!'
„Der Oheim starb. Ich wurde gerufen, den Damen
in der Unruhe der folgenden Tage, beim Ordnen des
Nachlasses beizustchen. Täglich sah ich jetzt Luise "
-X-
In Gedanken verloren sah der junge Mann eine
Weile vor sich hin, dann sprang er hastig auf, löschte die
Lampe und verließ das Zimmer.
Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als ein
Herr und eine Dame in leichtem Schlitten vom Park-
hause der Stadt zufuhren, verschiedenen Läden kurze Be-
suche machten und endlich vor einer Buchhandlung, wie es
schien zu längerem Aufenthalt, anhielten. Die junge Dame
hatte ihre Auswahl rasch getroffen, ihr Begleiter war
etwas zurückgetreten, um mit einem andern Herrn ein
etwas in den Hintergrund gerücktes Bild zu betrachten.
Als sie zurückkamen, sagte der letztere:
„So ist das Gerücht also doch nicht unbegründet, daß
Sie im Auftrage der geographischen Gesellschaft eine neue
Oricntreise machen würden?"
„Im Plane ist sie."
„Mit Ihnen an der Spitze?"
Die junge Dame hatte mit der gespanntesten Aufmcrk-
samkeih zugehört. Als der Gefragte jetzt antwortete:
„Vielleicht mit mir, wenn meine Bedingungen erfüllt
werden," ging es wie ein Erloschen über ihre Züge.
Hatte sie recht gehört?
Und abermals flog der Schlitten dahin durch die hell
erleuchteten Straßen, an einer festlich bewegten Menge
vorüber, der inneren Stadt zu. Dann hielt er vor einem
großen, palastartigen Gebäude mit ausgedehnter Fronte
und vielen Fenstern. Eine breite, vielstufige Treppe führte
zum Parterre hinauf; mächtige Kandelaber gossen einen
Strom von Licht über die durch eine Balustrade ab-
geschlossene Rampe weit auf den großen Platz hinaus.
Herren und Damen, Mädchen und Knaben strömten von
allen Seiten herzu, um in dem mächtigen, weitgcöffucten
Portal zu verschwinden.
Auch der Herr und die Dame aus dem Parkhause
folgten ihnen, traten seitab in ein zur Garderobe her-
gerichtetes Zimmer und stiegen dann den Aufgang zum
ersten Stock empor. Breite Flügelthüren öffneten sich,
ein großer Saal, mit Grün geschmückt, in dessen Mitte
eine Reihe großer Tannenbäume brannte, nahm sie auf.
Seide rauschte, Uniformen aller Art mischten sich mit dem
bürgerlichen Frack und dem einfachen Gehrock. Pracht
und Reichtum, schöne Farben, edle Formen überall.
Die Thüren wurden geschlossen, feierlicher Gesang,
brausender Orgclton erklang, dann wurde die Thür eines
Nebenzimmers aufgcthan und eine Reihe einfach, zum Teil
ärmlich gekleideter Kinder in den Saal geführt. Ein Geist-
licher hielt eine Ansprache, dann erhielt jedes der Kinder
die ihm zugedachten Gaben. Buntes Leben und Treiben
entfaltete sich; fröhliche Stimmen wurden laut und heiteres
Gelächter.
Ein kleiner, grauköpfiger Mann mit einer Brille hatte
sich zu Luise gesellt.
„Wie freue ich mich, mein gnädiges Fraulein," sagte
er, sich die Hände reibend, „daß es mir dennoch gelungen,
Sie in dem Gedränge aufzufinden. Ich habe eine große
Bitte an Sie. WaS meinen Sie, würden Sie sie wohl
erfüllen?"
Luise verneigte sich und antwortete:
„Wenn eö in meiner Macht steht, Herr Geheimerat,
so wissen Sie, daß ich Ihnen gern zu Diensten bin."
„Nun gut. Sie wissen, wir rüsten eine Expedition
ins Innere des dunklen Kontinents. Wir haben Ihren
Herrn Vetter zum Leiter des Unternehmens ausersehcn
und lange mit ihm verhandelt. Endlich dürfen wir hoffen,
am Ziel zu sein. Wir haben dem jungen Herrn in allem
nachgegeben und wollen seine Forderungen bewilligen."
„Und ich?"
„Sie sollen diese Botschaft hell und jubelnd ihm ver-
künden, hören Sie. Nicht als ob cs schon genug wäre,
ihm einfach mitzuteilen, was ich ausgeplaudert. In ganz
besonders feierlicher Form wollen wir unfern Beschluß zu
seiner Kenntnis bringen. Es ist Weihnacht; Ihr Vetter
ist unser aller Liebling. Wir wollen ihn überraschen und
— he, verstehen Sie! — ihm den heutigen Abend zu einem
ganz besonderen Feste machen. Ich selbst mit einigen
Freunden werde kommen. Sie aber sollen unser Herold
sein und er aus holdem Mund erfahren, welcher Ehre
wir ihn würdigen. Verstanden?" fragte der alte Herr.
Luise atmete schwer und eine tiefe Blässe hatte ihr
Gesicht bedeckt.
 
Annotationen