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sie sich fast ihrer inneren Qual. Sie strich sich lächelnd
die Thräncn ans dem Gesicht, ordnete ihr wirres Haar
und suchte ihr Herz zu dem befreienden Gedanken zu
zwingen, daß das Leben so trübe, wie es ihr jetzt erschien,
gar nicht sei, daß dem Abschied von der Mutter gewiß
bald ein frohes Wiedersehen folgen werde, daß der Himmel
auch für sic so blau, die Welt für sie so sommerschön sei,
und daß sie — ach, vielleicht! auf einem der sich in
der Ferne kreuzenden Pfade dem wieder begegnen könne,
den ihr junges, heißes Herz trotz aller Mühe nicht zu
vergessen vermochte.
So wurde sie ruhiger, faltete die Hände und sah mit
andächtigem Staunen in die wechselnde Pracht der Land-
schaft hinaus, bis die prunkende Farbenskala der tief-
gesättigten Wälder und Fluren in dem sanften Dufthanch
der Abenddämmerung verschwamm.
Eine Stunde noch vom Ziel ihrer Fahrt hielt der Zug
an einer belebten kleinen Landstation. Eine Schar sehr
fröhlicher und lauter Herren, augenscheinlich ein vornehmer
Jagdklub, drängte sich an die geöffneten Coupes und ein
frisches Durcheinander von Fragen, Rufen und Lachen
klang in den blauen, weithallenden, schon von den röt-
lichen und goldenen Eisenbahnlichtern durchblitzten Abend
hinaus.
„Ein anderes Coups, Schaffner, gleichviel welcher
Klasse, nur möglichst leer!" befahl da plötzlich eine sonore,
den Lärm klangvoll übertönende Stimme.
„Hier, hier, Herr Graf, nur noch dies! Das Fräu-
lein steigen in Franken aus!" brummte der Schaffner da-
gegen. Dabei ward die Thür, an welcher Elisabeth lehnte,
weit aufgerisscn, ein starker, berauschend süßer Blumen-
duft quoll ihr entgegen, ein schmaler Fuß erschien auf deni
Trittbrett, ein etwas nebenhin gesprochenes: „Sie gestatten
doch?" ertönte und im nächsten Augenblick hüpfte, von
eineni Männerarm gestützt, eine lichte Frauengestalt ins
Coups, der ein schlanker, in einen lichtbraunen Sommer-
überrock gekleideter Herr folgte.
„Da, Axel, die beiden Fensterplätze!" sagte die Dame
fröhlich zu ihrem Begleiter, nachdem sie erst etwas miß-
vergnügt, dann aber völlig beruhigt die im Schattendunkcl
lehnende stille, regungslos in sich zusammengesunkene Ge-
stalt Elisabeths mit schnellem Blick gemessen hatte.
„Prächtig!" entgegnete er mit jenem freudigen, liebens-
würdigen Ton, der seit einem halben Jahr durch alle
Träume Elisabeths klang. „Unter den angeheiterten
Nimrods war es nicht auszuhalten. Wie sie Dich alle
musterten!"
„Unsere schönen Blumen haben wir ihnen fast alle ge-
lassen —"
„Was thnt es?" flüsterte der Mann glücklich bewegt,
indem er sich der jungen Frau gegenüber setzte und ihre
Hand umfaßte. „Deine Myrten und Orangenblüten haben
wir ja — und übrigens — mein Herz," fuhr er noch leiser
fort, indem er seinen Platz mit dem an ihrer Seite ver-
tauschte und ihr Haupt zärtlich an seiner Schulter bettete,
„was liegt mir überhaupt jetzt noch an den toten Blüten ?"
Der Zug rollte nun wieder weiter. Nur leise, leise
schwebte und schwirrte das Geflüster der Neuvermählten
über dem gleichmäßigen Taktfall der rasselnden Räder.
„Was geschah dann weiter, Axel? Du erzähltest mir
da drüben gerade — oder bereust Du's, daß Du so offen
warst?" sagte die junge Frau nach einer Weile wieder
deutlich hörbar.
„Nein, nein, Du sollst es zu Ende hören, Virginie,"
entgegnete er. „Ich hatte das Mädchen wirklich beinahe
lieb gewonnen. Sie war so rührend, so eigen schön in
ihrem Erröten. — Mein Herz war krank, denn Du, Liebste,
nach der ich, wie so viele andere, lange, lange vergeblich
geschmachtet hatte, schienst durch die Anbetung des Prinzen
Feodor mir nun auf ewig entrückt zu sein. Die Gesell-
schaft, — was sage ich! — die ganze Welt war mir in-
folge dessen verhaßt. So stand eS um mich, als mich der
Blick des blauen' Kinderauges wie eine reizende Offen-
barung traf. Da ich ganz allein, ganz selbständig dastche,
konnte ich mir die Extravaganz, ein schönes, armes Mäd-
chen, teils aus Gefallen, teils pur äspit, zu meiner Frau
zu machen, wohl gestatten. Ich kundschaftete ihre Woh-
nung aus, sandte ihr Veilchen als Boten und stieg eines
Morgens selbst die vier Stiegen empor, um unter irgend
einem Vorwand einen Einblick in ihre Verhältnisse, ihre
Umgebung zu gewinnen."
„Und dann, und dann —" drängte die schöne Frau
mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Dann — dann — war es vorbei — war ich geheilt,
Virginie! Es war zu widerlich!
„Denke Dir ein altes, Hexenhaftes, hageres Weib, das
mich zu erwarten schien, das mir jeden Umweg zum Ziele
abschnitt, das mit entsetzlicher Freundlichkeit beinahe fragte,
ob ich gekommen sei, ihre Tochter zu freien, das es nicht
vermochte, einen unheimlichen Triumph, wie über ein lange
erstrebtes Glück, vor mir zu verbergen! O Gott, es war
genug, nicht nur um den zarten Keim einer schwanken-
den, mitleidigen Liebe für immer zu ertöten — nein, tausend-
mal mehr, um alle Wärme für das Volk, alle Sympathie
für die unteren Klassen überhaupt zu vernichten!"
„Und sie? Sahst Du sie nie mehr?"
„Nie. Es war derselbe Tag, an dem jene Einladung
Deines Vaters mich ahnen ließ, daß Du mich vermißtest,
Illuftrirte Melt.
an dem Dein eigener süßer Mund mir Prinz FeodorS
Fiasko andeutete, jener Tag, an dem ich wahrhafte Ge-
nesung fand."
Nun nahm der stampfende Takt der Räder die zarten
Lallte fast unhörbar geflüsterter Liebesworte brausend in
sich auf.
Grelles Schwirren der Dampfpfeifeu, zahlreiche, blitz-
schnell vorbeihuschende Lichter verkündeten die Nähe einer
Station.
„Franken!" sagte der junge Mann, ehe der Zug noch
hielt. „Wäre der Mond schon aufgegangen, so könntest
Du unser Gut, unsere künftige Heimat, im Thale sehen
und drüber, am Bergabhang, das schöne Oberfranken, das
Gut des Amtshauptmaun Werber, mit dem wir viel ver-
kehren werden. Wenn er es ahnte, daß unsere Hochzeits-
reise uns hier durchführte!"
Mit einem kurzem Pfiff, einem schrillen Schrei gleich-
sam, stand der Zug still.
„Sieh da, dort steht Frau von Werber. Wen sie wohl
erwarten mag?! Halte Dich im Dunkeln, Virginie, ich
mag nicht gesehen sein."
Hand in Hand lehnten sie wieder in der unbeleuchteten
Tiefe des Coupes, jedes von ihnen ganz mit dem andern
beschäftigt.
Währenddem schlang Elisabeth, deren weißes Gesicht
der Schatten der Wagenwand bisher völlig verdeckt hatte,
mit zitternden Fingern den grauen Schleier nm, nahm
Schirm und Koffer zur Hand, ließ das Fenster herab und
winkte dein Schaffner, daß er öffne.
Sobald ihr Fuß die Erde berührte, trat eine schöne
blonde Dame, die einen etwa achtjährigen, militärisch ge-
kleideten, mit einem Strauß köstlicher frischer Rosen bewaff-
neten Knaben an der Hand führte, auf sie zu und fragte
in herzlichem Ton, ob sie Fräulein Hillinger, die erwartete
Lehrerin ihrer Kinder sei.
Elisabeth schüttelte nur leise abwehrend den Kopf und
ging an der freundlichen Gruppe vorbei, durch die Halle
des Bahnhofgebäudes hindurch, auf die von Wald um-
säumte Landstraße hinaus.
Dort schritt sie, ohne des Weges zu achten, so weit
wie traumwandelnd dahin, als das Licht der Bahnhof-
laternen ihr mit unsicherem Schimmer den Pfad um-
leuchtete.
Dann sank sie im tiefen Dunkel, von einer bitter
quälenden Müdigkeit, einem schmerzhaften Rnhebedürfen
überwältigt, an der Seite des Weges ins Gras nieder.
Das Weh, das ihre Seele füllte, war stärker als ihr
Bewußtsein, sie vermochte es nicht auszudenken, nicht zu
begreifen.
Und um dem Schmerz auszuweichen, der sic über-
wältigte, klammerte sie sich an den, den sie erfassen konnte:
an das Mitleid mit ihrer Mutter, mit der armen, ver-
achteten Frau, die die zarten Fäden des Glückes, die sie
so fieberhaft zusammenzuspiuncn versucht, mit ihrer eigenen
groben Hand zerrissen hatte, die Hoffnung ans Hoffnung
begraben gemußt und nun auch noch den Schiffbruch der
letzten erfahren und ertragen sollte.
Und mitten in dem Uebermaß des Leides kam ihr ein
Gefühl, das so schmerzlich süß war, daß es ihre trockenen,
brennenden Augen mit ausquellendem Tau befeuchtete: das
Gefühl eines träumerischen Heimwehs, einer mächtigen
Sehnsucht, einmal an der Brust der Mutter den tiesen
Jammer ihrer Seele auszuweinen.
Im frühsten Dämmerlichte des nächsten Tages klopfte
das Mädchen zitternd und überwacht an die Thür ihrer
Heimatwohnung. Die kleine Barschaft, die sie bei sich
geführt, hatte ihr die Rückfahrt vierter Klasse gerade er-
möglicht.
Welch ein Wiedersehen!
Welch ein fassungsloser, starrer Schrecken in den Zügen
der Witwe, welches demütige, rührende Vergebungsflehen
in den großen, fieberheißen Blicken Elisabeths!
„Laß mich nur ein Viertelstündchcn ruhen, Mütterchen,
dann will ich Dir alles sagen," flehte sie mit mühsam
lächelnden Lippen, indem sie über die Schwelle trat.
Nun lag sie, ihrer Reisekleider entledigt, mit geschlossenen
Lidern regungslos auf das Lager der Mutter gestreckt,
während diese, auf den Zehen umherschleichend, den Mantel,
den schönen Hut und die neuen, winzig schmalen Stiefel-
chen im Schranke verwahrte. Dann setzte sie sich still an
das Bett und betrachtete das Antlitz, nach dem sie sich in
den langen, schlaflosen Stunden der verflossenen Nacht so
unsinnig gesehnt hatte, das liebe, stille Antlitz, dessen weiche
schneeige Schönheit seit gestern ein so wunderbar schmerz-
liches, herzergreifendes Gepräge erhalten hatte.
Im Schrecken über eine plötzlich erwachte, furchtbare
Ahnung geschah cs, daß die Witwe sich tief über das
marmorne Gesichtchen beugte, daß ein heißer Tropfen aus
ihrem Auge auf des Mädchens traurige Stirne siel.
In demselben Augenblick schlug diese die Augen auf,
richtete sich im Bette empor und umschlang die gebeugte,
greisenhafte Gestalt mit leidenschaftlicher Innigkeit.
So saßen sie beide, Wange an Wange geschmiegt, laut
aufschluchzend und sich fest aneinander klammernd, wie um
sich gegenseitig vor dem Schmerz zu beschützen, der grau-
sam und mächtig, wie ein Weih mit ausgebreiteten Schwin-
gen, über ihnen schwebte. Da kamen zum erstenmalc
stammelnde Schmeichelnamen über die strengen Lippen des
Weibes, das bisher an Thaten so viel, an Worten so wenig
vermocht hatte, jene Ausdrücke einer himmlischen Liebe,
womit eine andere Mutter vom ersten Herzschlag an das
Leben ihres Kindes schmückt.
Leise, wie beruhigt von dem Liebeshauch, der sie um-
fing, erzählte Elisabeth nun von ihrem Wiederzusammen-
tresfen mit jenem Mann, der ihr einige flüchtige Wochen
ihres Lebens durch Veilchen- und Glücksduft verklärt hatte.
Sie berichtete, ohne zu klagen, die launische Fügung des
Schicksals, daß gerade er der Nachbar und Freund der
Familie war, in der sie sonst gewiß ein so schönes, trösten-
des Wirken gefunden hätte.
„Mein Gott!" schluchzte die Witwe, da der Bann nun
einmal gebrochen war, „das eine fasse ich nicht: warum
kam er damals nicht wieder? Warum heiratete er eine
andere? Es war doch so gewiß, daß er Dich lieb hatte!"
Elisabeth zuckte zusammen, lächelte schmerzlich und
streckte sich, während sie die Hand der Mutter noch um-
schloß, wieder, wie von Müdigkeit bezwungen, auf dem
Lager aus.
Der Kummet, der oft Jahrzehnte hindurch die Zähig-
keit einer Menschennatur zu besiegen sucht, hat ein leichtes
Vernichtungswerk, wenn der vererbte Keim einer Todes-
krankheit ihm in einem jungen Körper zu Hilfe arbeitet.
Elisabeth stand nicht mehr von dem Lager auf, wo sie
von den Ermüdungen einer Nacht sich auszuruhen gesehnt
hatte.
Dem Spätsommertag, der sein Purpur und Gold über
die Blumenguirlanden streute, welche zu Ehren des heim-
kehrenden Grafenpaares das Herrenhaus in Franken
schmückten, lächelte sie ihr letztes Lächeln nach.
Die Mutterliebe, die sich so spät auf sich selbst be-
sonnen, geleitete den armen, schönen Liebling sanft und
mild aus dem Leben hinaus, das ihm wenig Sonnen-
schein gegönnt hatte.
„Lebe wohl, Mütterchen, Du hast es immer so gut
mit mir gemeint!" war des erblassenden Mundes letztes,
leise geflüstertes Wort.
Ein Räuberleben.
Skizze
von
George Deutsch.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
vor wenigen Jahrzehnten aufgehobene Strafanstalt
auf dem Spielberg bei Brünn zählte unter denjenigen
Insassen, welche wegen sogenannter gemeiner Verbrechen
verurteilt waren, manches Individuum, dessen Vergangen-
heit, ja selbst sein ganzes verbrecherisches Treiben, in einen roman-
tischen Nimbus gehüllt war, und dessen Erlebnisse und Schicksale
einen willkommenen Stoff zu einem bändereichen Roman liefern
würden. Von diesen Gefangenen hat keiner eine solche Popularität
im Volksmunde erlangt, keiner ist der Held so zahlreicher, teils
wirklicher, teils erfundener Geschichten geworden, als der erst im
Jahre 1879 aus diesem Leben geschiedene Rüuberhauptmann Joseph
Babinsky. Dieser Mann Warin einem Dorfe im Leitmeritzer Kreise
geboren, und da ihn sein Vater für den geistlichen Stand bestimmt
hatte, so wurde er nach Erreichung des sür die Gymnasialstudien
erforderlichen Alters in das Gymnasium der Kreisstadt gebracht.
Hier gerieten ihm die damals allgemein beliebten Ritter- und
Räuberromane von Spieß und Konsorten in die Hände, und die
von dieser Lektüre erhitzte Phantasie konnte selbstverständlich den
Deklinationen und Konjugationen der lateinischen Grammatik
keinen Geschmack abgewinnen. Einem solchen Fleiße in den
Studien mußten auch die Schulzeugnisse entsprechen. Der Vater
machte jedoch der Sache ein schnelles Ende, indem er den für
das Studiren nicht eingenommenen Sohn nach Hause nahm,
ihm statt der bisher getragenen städtischen Kleider einen Bauern-
kittel überwarf und durch die Verwendung zu den beschwerlichen
landwirtschaftlichen Verrichtungen die romantischen Grillen zu
vertreiben hoffte. Allein er täuschte sich in seiner Erwartung
vollständig, dem mißratenen Sohn wollte die ungewohnte Lebens-
weise nicht gefallen, und da er ein starker Kerl war, entwich er
aus dem väterlichen Hause und wanderte zu Fuß nach Prag,
wo er sich zur Artillerie engagiren ließ. Als Soldat knüpfte
er ein Liebesverhältnis mit eineni schönen Mädchen an, und diese
Bekanntschaft sollte die Veranlassung sein, daß er zuni Verbrecher
wurde. Die Familie feiner Geliebten war sehr arm, und da
sie den Mietzins nicht zahlen konnte, so ließ der Hausherr die
armselige Habe pfänden, erklärte sich aber nicht bloß zur Rück-
gabe der gepfändeten Gegenstände, sondern auch zur ferneren
Unterstützung der Familie bereit, wenn sich die Tochter seinen
Wünschen willfährig zeigen würde. Weinend erzählte das Mäd-
chen dem Liebhaber die Sachlage, und Babinsky, gerührt von
der Schilderung der Not und den Thränen, und in dieser
Situation ganz wieder unter dem Eindruck der Romanlektüre
stehend, beschloß, um jeden Preis Hilfe zu schaffen und beraubte
zu diesem Zweck die Kasse des Regiments. Er war nunmehr
zum Verbrecher geworden, dessen nach dem damaligen Militär-
strafgesetz die strengste Strafe harrte; er hatte aber auch das
Verbrechen nutzlos begangen, da die Geliebte inzwischen ein Ver-
hältnis mit dem Hauswirt angeknüpst hatte. Babinsky mußte
nun auf seine Sicherheit bedacht sein, und er nahm seinen Weg in
das Riesengcbirge, in Lessen dichten Wäldern er eine Rotte "von
Gleichgesinnten um sich scharte und bald als der Führer einer
verwegenen Räuberbande, einen gefürchteten Namen hatte. Sein
Vorgehen blieb rätselhaft; er raubte den reichen, namentlich
! geizigen Leuten , beschenkte aber bedürftige Familien, namentlich
aber war er der beredte Fürsprecher, wenn der reiche Bauer dem
armen Bewerber die Tochter nicht zur Gattin geben wollte. Die
sie sich fast ihrer inneren Qual. Sie strich sich lächelnd
die Thräncn ans dem Gesicht, ordnete ihr wirres Haar
und suchte ihr Herz zu dem befreienden Gedanken zu
zwingen, daß das Leben so trübe, wie es ihr jetzt erschien,
gar nicht sei, daß dem Abschied von der Mutter gewiß
bald ein frohes Wiedersehen folgen werde, daß der Himmel
auch für sic so blau, die Welt für sie so sommerschön sei,
und daß sie — ach, vielleicht! auf einem der sich in
der Ferne kreuzenden Pfade dem wieder begegnen könne,
den ihr junges, heißes Herz trotz aller Mühe nicht zu
vergessen vermochte.
So wurde sie ruhiger, faltete die Hände und sah mit
andächtigem Staunen in die wechselnde Pracht der Land-
schaft hinaus, bis die prunkende Farbenskala der tief-
gesättigten Wälder und Fluren in dem sanften Dufthanch
der Abenddämmerung verschwamm.
Eine Stunde noch vom Ziel ihrer Fahrt hielt der Zug
an einer belebten kleinen Landstation. Eine Schar sehr
fröhlicher und lauter Herren, augenscheinlich ein vornehmer
Jagdklub, drängte sich an die geöffneten Coupes und ein
frisches Durcheinander von Fragen, Rufen und Lachen
klang in den blauen, weithallenden, schon von den röt-
lichen und goldenen Eisenbahnlichtern durchblitzten Abend
hinaus.
„Ein anderes Coups, Schaffner, gleichviel welcher
Klasse, nur möglichst leer!" befahl da plötzlich eine sonore,
den Lärm klangvoll übertönende Stimme.
„Hier, hier, Herr Graf, nur noch dies! Das Fräu-
lein steigen in Franken aus!" brummte der Schaffner da-
gegen. Dabei ward die Thür, an welcher Elisabeth lehnte,
weit aufgerisscn, ein starker, berauschend süßer Blumen-
duft quoll ihr entgegen, ein schmaler Fuß erschien auf deni
Trittbrett, ein etwas nebenhin gesprochenes: „Sie gestatten
doch?" ertönte und im nächsten Augenblick hüpfte, von
eineni Männerarm gestützt, eine lichte Frauengestalt ins
Coups, der ein schlanker, in einen lichtbraunen Sommer-
überrock gekleideter Herr folgte.
„Da, Axel, die beiden Fensterplätze!" sagte die Dame
fröhlich zu ihrem Begleiter, nachdem sie erst etwas miß-
vergnügt, dann aber völlig beruhigt die im Schattendunkcl
lehnende stille, regungslos in sich zusammengesunkene Ge-
stalt Elisabeths mit schnellem Blick gemessen hatte.
„Prächtig!" entgegnete er mit jenem freudigen, liebens-
würdigen Ton, der seit einem halben Jahr durch alle
Träume Elisabeths klang. „Unter den angeheiterten
Nimrods war es nicht auszuhalten. Wie sie Dich alle
musterten!"
„Unsere schönen Blumen haben wir ihnen fast alle ge-
lassen —"
„Was thnt es?" flüsterte der Mann glücklich bewegt,
indem er sich der jungen Frau gegenüber setzte und ihre
Hand umfaßte. „Deine Myrten und Orangenblüten haben
wir ja — und übrigens — mein Herz," fuhr er noch leiser
fort, indem er seinen Platz mit dem an ihrer Seite ver-
tauschte und ihr Haupt zärtlich an seiner Schulter bettete,
„was liegt mir überhaupt jetzt noch an den toten Blüten ?"
Der Zug rollte nun wieder weiter. Nur leise, leise
schwebte und schwirrte das Geflüster der Neuvermählten
über dem gleichmäßigen Taktfall der rasselnden Räder.
„Was geschah dann weiter, Axel? Du erzähltest mir
da drüben gerade — oder bereust Du's, daß Du so offen
warst?" sagte die junge Frau nach einer Weile wieder
deutlich hörbar.
„Nein, nein, Du sollst es zu Ende hören, Virginie,"
entgegnete er. „Ich hatte das Mädchen wirklich beinahe
lieb gewonnen. Sie war so rührend, so eigen schön in
ihrem Erröten. — Mein Herz war krank, denn Du, Liebste,
nach der ich, wie so viele andere, lange, lange vergeblich
geschmachtet hatte, schienst durch die Anbetung des Prinzen
Feodor mir nun auf ewig entrückt zu sein. Die Gesell-
schaft, — was sage ich! — die ganze Welt war mir in-
folge dessen verhaßt. So stand eS um mich, als mich der
Blick des blauen' Kinderauges wie eine reizende Offen-
barung traf. Da ich ganz allein, ganz selbständig dastche,
konnte ich mir die Extravaganz, ein schönes, armes Mäd-
chen, teils aus Gefallen, teils pur äspit, zu meiner Frau
zu machen, wohl gestatten. Ich kundschaftete ihre Woh-
nung aus, sandte ihr Veilchen als Boten und stieg eines
Morgens selbst die vier Stiegen empor, um unter irgend
einem Vorwand einen Einblick in ihre Verhältnisse, ihre
Umgebung zu gewinnen."
„Und dann, und dann —" drängte die schöne Frau
mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Dann — dann — war es vorbei — war ich geheilt,
Virginie! Es war zu widerlich!
„Denke Dir ein altes, Hexenhaftes, hageres Weib, das
mich zu erwarten schien, das mir jeden Umweg zum Ziele
abschnitt, das mit entsetzlicher Freundlichkeit beinahe fragte,
ob ich gekommen sei, ihre Tochter zu freien, das es nicht
vermochte, einen unheimlichen Triumph, wie über ein lange
erstrebtes Glück, vor mir zu verbergen! O Gott, es war
genug, nicht nur um den zarten Keim einer schwanken-
den, mitleidigen Liebe für immer zu ertöten — nein, tausend-
mal mehr, um alle Wärme für das Volk, alle Sympathie
für die unteren Klassen überhaupt zu vernichten!"
„Und sie? Sahst Du sie nie mehr?"
„Nie. Es war derselbe Tag, an dem jene Einladung
Deines Vaters mich ahnen ließ, daß Du mich vermißtest,
Illuftrirte Melt.
an dem Dein eigener süßer Mund mir Prinz FeodorS
Fiasko andeutete, jener Tag, an dem ich wahrhafte Ge-
nesung fand."
Nun nahm der stampfende Takt der Räder die zarten
Lallte fast unhörbar geflüsterter Liebesworte brausend in
sich auf.
Grelles Schwirren der Dampfpfeifeu, zahlreiche, blitz-
schnell vorbeihuschende Lichter verkündeten die Nähe einer
Station.
„Franken!" sagte der junge Mann, ehe der Zug noch
hielt. „Wäre der Mond schon aufgegangen, so könntest
Du unser Gut, unsere künftige Heimat, im Thale sehen
und drüber, am Bergabhang, das schöne Oberfranken, das
Gut des Amtshauptmaun Werber, mit dem wir viel ver-
kehren werden. Wenn er es ahnte, daß unsere Hochzeits-
reise uns hier durchführte!"
Mit einem kurzem Pfiff, einem schrillen Schrei gleich-
sam, stand der Zug still.
„Sieh da, dort steht Frau von Werber. Wen sie wohl
erwarten mag?! Halte Dich im Dunkeln, Virginie, ich
mag nicht gesehen sein."
Hand in Hand lehnten sie wieder in der unbeleuchteten
Tiefe des Coupes, jedes von ihnen ganz mit dem andern
beschäftigt.
Währenddem schlang Elisabeth, deren weißes Gesicht
der Schatten der Wagenwand bisher völlig verdeckt hatte,
mit zitternden Fingern den grauen Schleier nm, nahm
Schirm und Koffer zur Hand, ließ das Fenster herab und
winkte dein Schaffner, daß er öffne.
Sobald ihr Fuß die Erde berührte, trat eine schöne
blonde Dame, die einen etwa achtjährigen, militärisch ge-
kleideten, mit einem Strauß köstlicher frischer Rosen bewaff-
neten Knaben an der Hand führte, auf sie zu und fragte
in herzlichem Ton, ob sie Fräulein Hillinger, die erwartete
Lehrerin ihrer Kinder sei.
Elisabeth schüttelte nur leise abwehrend den Kopf und
ging an der freundlichen Gruppe vorbei, durch die Halle
des Bahnhofgebäudes hindurch, auf die von Wald um-
säumte Landstraße hinaus.
Dort schritt sie, ohne des Weges zu achten, so weit
wie traumwandelnd dahin, als das Licht der Bahnhof-
laternen ihr mit unsicherem Schimmer den Pfad um-
leuchtete.
Dann sank sie im tiefen Dunkel, von einer bitter
quälenden Müdigkeit, einem schmerzhaften Rnhebedürfen
überwältigt, an der Seite des Weges ins Gras nieder.
Das Weh, das ihre Seele füllte, war stärker als ihr
Bewußtsein, sie vermochte es nicht auszudenken, nicht zu
begreifen.
Und um dem Schmerz auszuweichen, der sic über-
wältigte, klammerte sie sich an den, den sie erfassen konnte:
an das Mitleid mit ihrer Mutter, mit der armen, ver-
achteten Frau, die die zarten Fäden des Glückes, die sie
so fieberhaft zusammenzuspiuncn versucht, mit ihrer eigenen
groben Hand zerrissen hatte, die Hoffnung ans Hoffnung
begraben gemußt und nun auch noch den Schiffbruch der
letzten erfahren und ertragen sollte.
Und mitten in dem Uebermaß des Leides kam ihr ein
Gefühl, das so schmerzlich süß war, daß es ihre trockenen,
brennenden Augen mit ausquellendem Tau befeuchtete: das
Gefühl eines träumerischen Heimwehs, einer mächtigen
Sehnsucht, einmal an der Brust der Mutter den tiesen
Jammer ihrer Seele auszuweinen.
Im frühsten Dämmerlichte des nächsten Tages klopfte
das Mädchen zitternd und überwacht an die Thür ihrer
Heimatwohnung. Die kleine Barschaft, die sie bei sich
geführt, hatte ihr die Rückfahrt vierter Klasse gerade er-
möglicht.
Welch ein Wiedersehen!
Welch ein fassungsloser, starrer Schrecken in den Zügen
der Witwe, welches demütige, rührende Vergebungsflehen
in den großen, fieberheißen Blicken Elisabeths!
„Laß mich nur ein Viertelstündchcn ruhen, Mütterchen,
dann will ich Dir alles sagen," flehte sie mit mühsam
lächelnden Lippen, indem sie über die Schwelle trat.
Nun lag sie, ihrer Reisekleider entledigt, mit geschlossenen
Lidern regungslos auf das Lager der Mutter gestreckt,
während diese, auf den Zehen umherschleichend, den Mantel,
den schönen Hut und die neuen, winzig schmalen Stiefel-
chen im Schranke verwahrte. Dann setzte sie sich still an
das Bett und betrachtete das Antlitz, nach dem sie sich in
den langen, schlaflosen Stunden der verflossenen Nacht so
unsinnig gesehnt hatte, das liebe, stille Antlitz, dessen weiche
schneeige Schönheit seit gestern ein so wunderbar schmerz-
liches, herzergreifendes Gepräge erhalten hatte.
Im Schrecken über eine plötzlich erwachte, furchtbare
Ahnung geschah cs, daß die Witwe sich tief über das
marmorne Gesichtchen beugte, daß ein heißer Tropfen aus
ihrem Auge auf des Mädchens traurige Stirne siel.
In demselben Augenblick schlug diese die Augen auf,
richtete sich im Bette empor und umschlang die gebeugte,
greisenhafte Gestalt mit leidenschaftlicher Innigkeit.
So saßen sie beide, Wange an Wange geschmiegt, laut
aufschluchzend und sich fest aneinander klammernd, wie um
sich gegenseitig vor dem Schmerz zu beschützen, der grau-
sam und mächtig, wie ein Weih mit ausgebreiteten Schwin-
gen, über ihnen schwebte. Da kamen zum erstenmalc
stammelnde Schmeichelnamen über die strengen Lippen des
Weibes, das bisher an Thaten so viel, an Worten so wenig
vermocht hatte, jene Ausdrücke einer himmlischen Liebe,
womit eine andere Mutter vom ersten Herzschlag an das
Leben ihres Kindes schmückt.
Leise, wie beruhigt von dem Liebeshauch, der sie um-
fing, erzählte Elisabeth nun von ihrem Wiederzusammen-
tresfen mit jenem Mann, der ihr einige flüchtige Wochen
ihres Lebens durch Veilchen- und Glücksduft verklärt hatte.
Sie berichtete, ohne zu klagen, die launische Fügung des
Schicksals, daß gerade er der Nachbar und Freund der
Familie war, in der sie sonst gewiß ein so schönes, trösten-
des Wirken gefunden hätte.
„Mein Gott!" schluchzte die Witwe, da der Bann nun
einmal gebrochen war, „das eine fasse ich nicht: warum
kam er damals nicht wieder? Warum heiratete er eine
andere? Es war doch so gewiß, daß er Dich lieb hatte!"
Elisabeth zuckte zusammen, lächelte schmerzlich und
streckte sich, während sie die Hand der Mutter noch um-
schloß, wieder, wie von Müdigkeit bezwungen, auf dem
Lager aus.
Der Kummet, der oft Jahrzehnte hindurch die Zähig-
keit einer Menschennatur zu besiegen sucht, hat ein leichtes
Vernichtungswerk, wenn der vererbte Keim einer Todes-
krankheit ihm in einem jungen Körper zu Hilfe arbeitet.
Elisabeth stand nicht mehr von dem Lager auf, wo sie
von den Ermüdungen einer Nacht sich auszuruhen gesehnt
hatte.
Dem Spätsommertag, der sein Purpur und Gold über
die Blumenguirlanden streute, welche zu Ehren des heim-
kehrenden Grafenpaares das Herrenhaus in Franken
schmückten, lächelte sie ihr letztes Lächeln nach.
Die Mutterliebe, die sich so spät auf sich selbst be-
sonnen, geleitete den armen, schönen Liebling sanft und
mild aus dem Leben hinaus, das ihm wenig Sonnen-
schein gegönnt hatte.
„Lebe wohl, Mütterchen, Du hast es immer so gut
mit mir gemeint!" war des erblassenden Mundes letztes,
leise geflüstertes Wort.
Ein Räuberleben.
Skizze
von
George Deutsch.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
vor wenigen Jahrzehnten aufgehobene Strafanstalt
auf dem Spielberg bei Brünn zählte unter denjenigen
Insassen, welche wegen sogenannter gemeiner Verbrechen
verurteilt waren, manches Individuum, dessen Vergangen-
heit, ja selbst sein ganzes verbrecherisches Treiben, in einen roman-
tischen Nimbus gehüllt war, und dessen Erlebnisse und Schicksale
einen willkommenen Stoff zu einem bändereichen Roman liefern
würden. Von diesen Gefangenen hat keiner eine solche Popularität
im Volksmunde erlangt, keiner ist der Held so zahlreicher, teils
wirklicher, teils erfundener Geschichten geworden, als der erst im
Jahre 1879 aus diesem Leben geschiedene Rüuberhauptmann Joseph
Babinsky. Dieser Mann Warin einem Dorfe im Leitmeritzer Kreise
geboren, und da ihn sein Vater für den geistlichen Stand bestimmt
hatte, so wurde er nach Erreichung des sür die Gymnasialstudien
erforderlichen Alters in das Gymnasium der Kreisstadt gebracht.
Hier gerieten ihm die damals allgemein beliebten Ritter- und
Räuberromane von Spieß und Konsorten in die Hände, und die
von dieser Lektüre erhitzte Phantasie konnte selbstverständlich den
Deklinationen und Konjugationen der lateinischen Grammatik
keinen Geschmack abgewinnen. Einem solchen Fleiße in den
Studien mußten auch die Schulzeugnisse entsprechen. Der Vater
machte jedoch der Sache ein schnelles Ende, indem er den für
das Studiren nicht eingenommenen Sohn nach Hause nahm,
ihm statt der bisher getragenen städtischen Kleider einen Bauern-
kittel überwarf und durch die Verwendung zu den beschwerlichen
landwirtschaftlichen Verrichtungen die romantischen Grillen zu
vertreiben hoffte. Allein er täuschte sich in seiner Erwartung
vollständig, dem mißratenen Sohn wollte die ungewohnte Lebens-
weise nicht gefallen, und da er ein starker Kerl war, entwich er
aus dem väterlichen Hause und wanderte zu Fuß nach Prag,
wo er sich zur Artillerie engagiren ließ. Als Soldat knüpfte
er ein Liebesverhältnis mit eineni schönen Mädchen an, und diese
Bekanntschaft sollte die Veranlassung sein, daß er zuni Verbrecher
wurde. Die Familie feiner Geliebten war sehr arm, und da
sie den Mietzins nicht zahlen konnte, so ließ der Hausherr die
armselige Habe pfänden, erklärte sich aber nicht bloß zur Rück-
gabe der gepfändeten Gegenstände, sondern auch zur ferneren
Unterstützung der Familie bereit, wenn sich die Tochter seinen
Wünschen willfährig zeigen würde. Weinend erzählte das Mäd-
chen dem Liebhaber die Sachlage, und Babinsky, gerührt von
der Schilderung der Not und den Thränen, und in dieser
Situation ganz wieder unter dem Eindruck der Romanlektüre
stehend, beschloß, um jeden Preis Hilfe zu schaffen und beraubte
zu diesem Zweck die Kasse des Regiments. Er war nunmehr
zum Verbrecher geworden, dessen nach dem damaligen Militär-
strafgesetz die strengste Strafe harrte; er hatte aber auch das
Verbrechen nutzlos begangen, da die Geliebte inzwischen ein Ver-
hältnis mit dem Hauswirt angeknüpst hatte. Babinsky mußte
nun auf seine Sicherheit bedacht sein, und er nahm seinen Weg in
das Riesengcbirge, in Lessen dichten Wäldern er eine Rotte "von
Gleichgesinnten um sich scharte und bald als der Führer einer
verwegenen Räuberbande, einen gefürchteten Namen hatte. Sein
Vorgehen blieb rätselhaft; er raubte den reichen, namentlich
! geizigen Leuten , beschenkte aber bedürftige Familien, namentlich
aber war er der beredte Fürsprecher, wenn der reiche Bauer dem
armen Bewerber die Tochter nicht zur Gattin geben wollte. Die