Illustrierte Welt.
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sündhaft sein, aber ich gestehe dir offen, Marga, daß ich
all die Zeit nur darüber nachgedacht habe, auf welche
Art man sich am leichtesten den Tod geben könne.
Besäße ich nur ein klein wenig mehr Mut, wer weiß,
ob du mich noch einmal wiedergesehen hättest!"
„Das ist sehr häßlich, Jenny! Ich hatte bisher
allerdings eine größere Meinung von deiner Liebe
zu mir."
Die Gescholtene glitt neben der Schwester auf den
Boden nieder und drückte das glühende Gesichtchen in
ihren Schoß.
„Vergieb mir!" schluchzte sie. „Ich will ja auch
nie wieder solchen Gedanken nachhängen. Aber es
waren so schreckliche Stunden, die ich da in meiner
Einsamkeit verbrachte." .
„Und warum bist du nicht sogleich gekommen, um
bei mir Trost zu suchen?"
„Ich schämte mich so sehr. Und dann wagte ich
mich auch gar nicht fort, weil ich fürchtete, daß sie
mich mit Gewalt zurückhalten würden."
„Hat man sich denn gar nicht um dich gekümmert?
Du wirst doch hoffentlich nicht während des ganzen
Tages ohne Nahrung geblieben sein?"
„Doch! Aber das macht nichts. Ich spüre gar
keinen Hunger. Und ich hätte heute nicht mit diesen
beiden entsetzlichen Menschen an einem Tisch sitzen
können, selbst wenn man mich durch die gräßlichsten
Qualen hätte dazu zwingen wollen."
„Und doch wirst dn dich nun wieder dazu ent-
schließen müssen, mein armer Liebling! Ihr Haus ist
vorläufig deine einzige Zuflucht, und als Vormund
hat der Oheim überdies die Gewalt, nach seinem Er-
messen über dich zu verfügen. Wie schmerzlich es auch
für mich ist, kann ich doch in diesem Augenblick nichts,
rein gar nichts für dich thun."
„Das weiß ich, und ich bin ja auch nicht gekommen,
weil ich einen Beistand von dir erwartete. Nur weil
mich mit einemmal eine so heiße Sehnsucht überkam.
dein Gesicht zu sehen und deine liebe Stimme zu hören,
habe ich mich fortgeschlichen. Es giebt keinen Ort ans
Erden, wo ich Trost finden könnte, außer bei dir. Ach,
warum darf ich nicht immer, immer bei dir sein!"
„Wüßte ich auf irgend eine Weise den Unterhalt
für uns beide zu verdienen, ich ließe mich gewiß nicht
von dir trennen. Aber es ist ein großes Unglück, daß
ich kein Examen gemacht habe. Man giebt überall den
geprüften Lehrerinnen den Vorzug, und wenn ich heute
meine Stellung verlöre, wer weiß, ob ich dann sogleich
eine andre wiederfinden würde. Doch das find Dinge,
über die wir schon oft gesprochen haben. Und jetzt
mußt du vor allem etwas genießen — ein Brötchen
wenigstens und ein Glas Wein."
Aber Jenny wehrte mit der Versicherung ab, daß
sie gar nicht hungrig sei, und daß sie überdies Geld
genug habe, sich unterwegs etwas zu essen zu kaufen.
Während sie noch sprachen, wnrde draußen der Klang
von Schritten vernehmlich. Die Schwestern hörten das
Rauschen von Frauengewändern und dann ein ziemlich
energisches Klopfen. Hastig sprang Margarete auf,
um zu öffnen. In prächtiger Seidenrobe, von Bril-
lanten funkelnd, stand eine stattliche, etwa vierzigjährige
Dame auf der Schwelle des Stübchens.
„Mein Gott, Fräulein, wo bleiben Sie nur? Ich
suche Sie überall. Die ersten Gäste müssen jeden Augen-
blick kommen, und an den Arrangements im Speise-
zimmer muß noch verschiedenes geändert werden. —
Aber freilich, wenn Sie sich durch einen Besuch in
Anspruch nehmen lassen — gerade jetzt..
Sie streifte die bestürzt dastehende Jenny mit einem
nichts weniger als freundlichen Blick und hielt es für
überflüssig, ihren bescheidenen Gruß zu erwidern.
Margarete aber sagte mit ruhiger Festigkeit:
„Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau. Aber
was meine Schwester mir mitzuteilen hatte, konnte
nicht ausgeschoben werden. Nach einigen Minuten wäre
ich auch ungerufen an meine Arbeit zurückgekehrt."
„Das ist mir lieb. Fräulein Jenny findet ja auch
gewiß Gelegenheit, zu einer passenderen Stunde wieder-
zukommen."
Das war eine Verabschiedung, die an Deutlichkeit
nichts mehr zu wünschen übrig ließ. Eilig knöpfte
Jenny ihr Jäckchen wieder zu und rückte das ver-
schobene Barett zurecht.
„Leb wohl, Marga," sagte sie, und dann, da Frau
Göttersberg nicht von der Stelle wich, fügte sie hastig
hinzu:
„Und beunruhige dich meinetwegen nun nicht mehr.
Ich werde mich znsammennehmen und werde geduldig
ausharren. Auch dieses Schreckliche kann ja am Ende
nicht ewig währen."
„Wenn es Ihnen etwa unangenehm wäre, mit
einigen von unfern Güsten zusammenzutreffen," mischte
sich die Gattin des Bankdirektors ein, „so würde ich
Ihnen empfehlen, mein liebes Fräulein, die Hinter-
treppe zu benutzen."
Gewiß würde Jenny diesem freundlichen Rat ohne
weiteres gefolgt sein, wenn nicht Margarete statt ihrer
in einem sehr bestimmten Ton erwidert hätte:
„Meine Schwester hat keine Ursache, solche Begeg-
nung zu fürchten."
Dann fühlte sich die Hinausgewiesene fast leiden-
schaftlich zärtlich umschlungen, und noch als sich die
Thür der Wohnung bereits hinter ihr geschlossen hatte,
klangen ihr die letzten Worte Margaretens im Ohre nach:
„Sei tapfer, liebstes Herz! Vielleicht ändert sich's
schneller, als wir heute ahnen!"
Sie ging die Treppe hinab, aber schon auf der
ersten Stufe fühlte sie sich von einem Schwindel be-
fallen, der sie nötigte, sich an dem Geländer festzn-
halten. Ihr jugendlicher Körper lehnte sich endlich
gegen die Mißhandlung ans, die ihm durch alle die
Aufregungen dieses Tages und durch das lange Fasten
zugefügt worden war. Es flimmerte ihr vor den Augen,
und ihre Kniee zitterten, so daß sie in Versuchung war,
wieder umzukehren, um sich zunächst im Stübchen der
Schwester ein wenig zu erholen. Aber die Erinnerung
an Frau Göttersbergs ungnädige Miene raubte ihr
den Mut zu einem solchen Wagnis, und obwohl sie
noch immer alles um sich her wie durch einen Nebel
sah, setzte sie doch nach kurzem Verweilen ihren Weg
fort, von der Angst getrieben, daß die Gäste des Bank-
direktors sie hier in solchem Zustande sehen und daran
Anstoß nehmen könnten.
Aber es war schon zu spät; denn jetzt ging unten
die Thür, und Jenny vernahm ein klirrendes Geräusch
wie von dem Ausstößen eines Säbels. Sie bereute,
ihren Weg nicht doch über die Hintertreppe genommen
zu haben, und beschleunigte ihren Schritt. Doch das
Bangen vor der unvermeidlichen Begegnung, so thöricht
es auch sein mochte, trieb ihr aufs neue das Blut zum
Kopf. Undeutlich nur sah sie aus dem zitternden Nebel
die Umrisse einer menschlichen Gestalt vor sich auf-
tauchen. Dann sah und hörte sie nichts mehr.
Als sic die Augen wieder aufschlng, geschah es mit
einer unbeschreiblich wohligen Empfindung. Sie fühlte
sich sehr matt aber es war eine süße, wnnschlose
Mattigkeit, die köstlicher war als das Vollbewußtsein
strotzender Kraft. Daß sie auf weichem Polster in
einer ihr völlig unbekannten Umgebung lag, befremdete
sie während der ersten Sekunden nicht im geringsten.
Ohne den Kops zu erheben, und ohne ein Glied zu
rühren, musterte sie mit langsam umherwanderndem
Blick den Raum, in dem sie sich befand. Sie erkannte
mit voller Klarheit, daß es ein großes, schön aus-
gestattetes Zimmer war, angesüllt mit schier unzähligen,
wunderhübschen Dingen, die ihr allesamt höchst inter-
essant vorkamen. Niemals, auch nicht bei den Götters-
bergs, glaubte sie, ein so vornehmes und prächtiges
Gemach gesehen zu haben, obwohl alles in dunkeln
oder stark gedämpften Farben gehalten war und nir-
gends eine Einzelheit in aufdringlichem Prunk hervor-
trat. Sie fragte sich zunächst nicht, wie sie hierher-
gelangt sein könnte; aber sie wünschte mit vollem Be-
wußtsein, da zu bleiben, wo sie war. ungestört und
immer in dieser himmlischen Müdigkeit, die sie allen
Nachdenkens überhob.
Doch der angenehme Zustand, der glücklichste, in
dem sie sich je befunden, war leider nur von kurzer
Dauer. Und das jähe Erschrecken, mit dein er plötzlich
endete, war wie das peinvolle Ausfahren eines roh aus
holdem Traume Wachgerüttelten. Gerade vor ihr war
ein mattfarbiger, alter Gobelin, von dem sie nicht ge-
ahnt hatte, daß sich eine Thüröffnung hinter ihm ver-
barg, rasch zurückgeschlagen worden, und im nächsten
Moment hatte sie sich einein fremden Manne gegen-
über gesehen, einem jungen Offizier, dessen Gestalt ihr
wohl nur infolge ihres Entsetzens gewaltig erschien wie
die eines Riesen. Mit einem kleinen Aufschrei richtete
sie sich empor und streckte in halb instinktiver Abwehr
beide Arme gegen ihn aus.
„O mein Gott — wo bin ich? Was ist mit mir
geschehen?"
Aber die Bestürzung und Verlegenheit des andern
war vielleicht kaum geringer als die ihrige. Er war
sofort stehen geblieben, und in seinem hübschen, frischen
Gesicht, zu dem Jenny gar nicht mehr aufzublicken
wagte, spiegelte sich viel eher eine große Ratlosigkeit
als verwegene Unternehmungslust.
„Ich bitte Sie dringend, sich nicht zu beunruhigen,
mein Fräulein," sagte er, und schon der Klang seiner
Stimme hätte sie überzeugen müssen, daß er nichts
Böses im Schilde führe. „Der Arzt wird hoffentlich
sogleich da sein."
„Ein Arzt? Für mich? Ja, um des Himmels
willen, was soll denn das alles bedeuten? Sagen Sie
mir doch nur, wo ich bin, und wie ich hierher kommen
konnte."
„Gnädiges Fräulein müssen auf der Treppe von
einem Unwohlsein befallen worden sein; denn ich fand
Sie ohnmächtig vor der Thür meiner Wohnung. Viel-
leicht habe ich damit eine Ungeschicklichkeit begangen;
aber ich wußte mir im Augenblick wirklich nicht anders
zu helfen als damit, daß ich Sie hier hereintrug.
Draußen auf der Stiege konnte ich Sie doch unmöglich
liegen lassen."
Er sagte das befangen und bittend, als bedürfe seine
menschenfreundliche That einer Entschuldigung; beinahe
ängstlich waren seine treuherzigen blauen Äugen auf
Jenny gerichtet. Die aber sah es nicht, denn sie hatte
das Gesicht in den Händen verborgen und glaubte vor
Beschämung schier vergehen zu müssen. Daß der hilfs-
bereite junge Mann ein Wort des Dankes verdiene,
vergaß sie darüber ganz und gar.
„Ans der Treppe? Ja, jetzt erinnere ich mich —
mir wurde mit einemmal so schwindlig. Ich bin also
noch immer im Hause des Herrn Göttersberg?"
„Ich glaube allerdings, daß jemand dieses Namens
oben im zweiten Stockwerk wohnt. Wünschen Sie,
daß er benachrichtigt werde?"
„Nein, nein!" rief Jenny in größter Angst, indem
sie zugleich die Hände sinken ließ und ihm zum ersten-
mal wieder ihr blasses und noch in seiner Verstörtheit
so reizendes Gesichtchen zukehrte. „Nur das nicht! Ich
schämte mich zu Tode. Was sollte nur meine Schwester
von mir denken, wenn sie es erführe!"
„Durch mich wird niemand etwas erfahren, mein
Fräulein, falls Sie es so befehlen," versicherte er sehr
eifrig, obwohl er offenbar durchaus nicht begriff, was
an einer Ohnmacht so gar Verdammenswertes sein
könnte. Und dann, nachdem sie für eine kleine Weile
beide in verlegenem Schweigen verharrt waren, fügte
er, um doch etwas zu sagen, hinzu:
„Ich hoffe, daß Sie sich jetzt besser befinden, und
ich denke, daß mein Diener nun doch in jedem Äugen-
blick mit einem Arzt zurückkommen muß."
Die Erinnerung an den erwarteten Arzt wirkte
rascher und unmittelbarer auf Jennys Schwäche ein,
als es das beste Kräftigungsmittel vermocht hätte. Sie
sprang aus ihrer sitzenden Stellung auf die Füße und
warf sich straff in die Brust.
„Aber mir fehlt ja gar nichts — durchaus nichts.
Ich bin schon wieder ganz Wohl, und ich bitte Sie um
Gottes willen — lassen Sie mich fort!"
„Ich werde Sie gewiß nicht gegen Ihren Willen
zurückhalten, aber. . ."
„Nein, nein, kein Aber! Ich bin ja schon viel zu
lange hier. Wo ist denn nur die richtige Thür?"
Sie war an die ihr zunächst befindliche gelaufen
und dann entsetzt zurückgeprallt, da sie sich auf der
Schwelle eines Schlafzimmers gesehen. Mit flehendem
Blick wandte sie sich an den jungen Offizier, der felber-
rot geworden war wie ein Mädchen, und der durchaus
nicht gemacht schien, dem Flehen so schöner Augen
hartherzig zu widerstehen.
„Dort, mein Fräulein — aber wenn ich auch kein
Recht habe. Sie zu längerem Bleiben zu bewegen, zu
Fuß darf ich Sie Ihren Heimweg unmöglich antreten
lassen. Haben Sie es weit bis zu Ihrer Wohnung?"
„Ja, ziemlich weit. Und ich würde freilich lieber-
fahren, denn ich habe große Angst, daß es mir noch
einmal passieren könnte. Aber steht da nicht schon eine
Droschke vor der Thür?"
Sie hatte einen Blick durch das Fenster geworfen
und dabei die Laternen gesehen. Der Offizier schien
für einen Moment unschlüssig, was er antworten sollte;
dann aber sagte er rasch:
„Jawohl, und sie ist zu Ihrer Verfügung. Aber
fühlen Sie sich denn auch wirklich schon stark genug,
um sich nach Hause zu begeben?"
Sie hatte ganz kurz bejahen wollen, denn sie brannte
ja vor Ungeduld, fortzukommen; aber in dem Ton
seiner Frage war etwas gewesen, das sie halb wider
ihren Willen gezwungen hatte, zu ihm auszublicken,
und da bemerkte sie nicht nur — was ihr bisher in
ihrer Aufregung ganz entgangen war —, daß er ein
sehr hübsches und seines Gesicht hatte, sondern sie sah
auch auf diesem Gesicht einen Ausdruck so inniger
Teilnahme, daß es ihr seltsam warm ums Herz wurde
und daß sie zugleich zu ihrer Beschämung erkannte,
wie undankbar und unfreundlich sie sich bis zu diesem
Moment gegen ihn benommen.
„Ja, mein Herr, ich brauche Ihnen wirklich nicht
weiter zur Last zu fallen. Und ich — ich danke Ihnen
aufrichtig für Ihren Beistand."
Ganz so herzlich, wie sie es beabsichtigt hatte, war
das zwar nicht herausgekommen; aber den Offizier
mußte es doch erfreut haben, denn seine blauen Äugen
leuchteten noch Heller, und ein überaus liebenswürdiges
Lächeln erschien aus seinem Antlitz:
„Wenn es nur etwas mehr hätte sein können,"
sagte er. „Ich möchte mir so gern einmal die Rettungs-
medaille verdienen; aber ich fürchte, dafür reichte es
auch diesmal wieder nicht aus."
Der harmlose Scherz hatte offenbar nur den Zweck
gehabt, alle weiteren Danksagungen abzuschneiden. Man
konnte sich in solcher Situation unmöglich zartfühlender
und ritterlicher benehmen, als dieser junge Mann, den
Jenny jetzt, wo sie seine Größe an der ihrigen messen
konnte, zwar nicht mehr für einen Riesen hielt, dessen
Gestalt und Antlitz aber in ihrer Phantasie alle Vor-
stellungen lebendig werden ließ, die sie sich jemals von
Siegfried oder dem Helden der Frithjofsage gemacht.
Ohne sie noch einmal zum Verweilen aufzufordern,
hatte er die Thür des Zimmers vor ihr geöffnet und
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sündhaft sein, aber ich gestehe dir offen, Marga, daß ich
all die Zeit nur darüber nachgedacht habe, auf welche
Art man sich am leichtesten den Tod geben könne.
Besäße ich nur ein klein wenig mehr Mut, wer weiß,
ob du mich noch einmal wiedergesehen hättest!"
„Das ist sehr häßlich, Jenny! Ich hatte bisher
allerdings eine größere Meinung von deiner Liebe
zu mir."
Die Gescholtene glitt neben der Schwester auf den
Boden nieder und drückte das glühende Gesichtchen in
ihren Schoß.
„Vergieb mir!" schluchzte sie. „Ich will ja auch
nie wieder solchen Gedanken nachhängen. Aber es
waren so schreckliche Stunden, die ich da in meiner
Einsamkeit verbrachte." .
„Und warum bist du nicht sogleich gekommen, um
bei mir Trost zu suchen?"
„Ich schämte mich so sehr. Und dann wagte ich
mich auch gar nicht fort, weil ich fürchtete, daß sie
mich mit Gewalt zurückhalten würden."
„Hat man sich denn gar nicht um dich gekümmert?
Du wirst doch hoffentlich nicht während des ganzen
Tages ohne Nahrung geblieben sein?"
„Doch! Aber das macht nichts. Ich spüre gar
keinen Hunger. Und ich hätte heute nicht mit diesen
beiden entsetzlichen Menschen an einem Tisch sitzen
können, selbst wenn man mich durch die gräßlichsten
Qualen hätte dazu zwingen wollen."
„Und doch wirst dn dich nun wieder dazu ent-
schließen müssen, mein armer Liebling! Ihr Haus ist
vorläufig deine einzige Zuflucht, und als Vormund
hat der Oheim überdies die Gewalt, nach seinem Er-
messen über dich zu verfügen. Wie schmerzlich es auch
für mich ist, kann ich doch in diesem Augenblick nichts,
rein gar nichts für dich thun."
„Das weiß ich, und ich bin ja auch nicht gekommen,
weil ich einen Beistand von dir erwartete. Nur weil
mich mit einemmal eine so heiße Sehnsucht überkam.
dein Gesicht zu sehen und deine liebe Stimme zu hören,
habe ich mich fortgeschlichen. Es giebt keinen Ort ans
Erden, wo ich Trost finden könnte, außer bei dir. Ach,
warum darf ich nicht immer, immer bei dir sein!"
„Wüßte ich auf irgend eine Weise den Unterhalt
für uns beide zu verdienen, ich ließe mich gewiß nicht
von dir trennen. Aber es ist ein großes Unglück, daß
ich kein Examen gemacht habe. Man giebt überall den
geprüften Lehrerinnen den Vorzug, und wenn ich heute
meine Stellung verlöre, wer weiß, ob ich dann sogleich
eine andre wiederfinden würde. Doch das find Dinge,
über die wir schon oft gesprochen haben. Und jetzt
mußt du vor allem etwas genießen — ein Brötchen
wenigstens und ein Glas Wein."
Aber Jenny wehrte mit der Versicherung ab, daß
sie gar nicht hungrig sei, und daß sie überdies Geld
genug habe, sich unterwegs etwas zu essen zu kaufen.
Während sie noch sprachen, wnrde draußen der Klang
von Schritten vernehmlich. Die Schwestern hörten das
Rauschen von Frauengewändern und dann ein ziemlich
energisches Klopfen. Hastig sprang Margarete auf,
um zu öffnen. In prächtiger Seidenrobe, von Bril-
lanten funkelnd, stand eine stattliche, etwa vierzigjährige
Dame auf der Schwelle des Stübchens.
„Mein Gott, Fräulein, wo bleiben Sie nur? Ich
suche Sie überall. Die ersten Gäste müssen jeden Augen-
blick kommen, und an den Arrangements im Speise-
zimmer muß noch verschiedenes geändert werden. —
Aber freilich, wenn Sie sich durch einen Besuch in
Anspruch nehmen lassen — gerade jetzt..
Sie streifte die bestürzt dastehende Jenny mit einem
nichts weniger als freundlichen Blick und hielt es für
überflüssig, ihren bescheidenen Gruß zu erwidern.
Margarete aber sagte mit ruhiger Festigkeit:
„Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau. Aber
was meine Schwester mir mitzuteilen hatte, konnte
nicht ausgeschoben werden. Nach einigen Minuten wäre
ich auch ungerufen an meine Arbeit zurückgekehrt."
„Das ist mir lieb. Fräulein Jenny findet ja auch
gewiß Gelegenheit, zu einer passenderen Stunde wieder-
zukommen."
Das war eine Verabschiedung, die an Deutlichkeit
nichts mehr zu wünschen übrig ließ. Eilig knöpfte
Jenny ihr Jäckchen wieder zu und rückte das ver-
schobene Barett zurecht.
„Leb wohl, Marga," sagte sie, und dann, da Frau
Göttersberg nicht von der Stelle wich, fügte sie hastig
hinzu:
„Und beunruhige dich meinetwegen nun nicht mehr.
Ich werde mich znsammennehmen und werde geduldig
ausharren. Auch dieses Schreckliche kann ja am Ende
nicht ewig währen."
„Wenn es Ihnen etwa unangenehm wäre, mit
einigen von unfern Güsten zusammenzutreffen," mischte
sich die Gattin des Bankdirektors ein, „so würde ich
Ihnen empfehlen, mein liebes Fräulein, die Hinter-
treppe zu benutzen."
Gewiß würde Jenny diesem freundlichen Rat ohne
weiteres gefolgt sein, wenn nicht Margarete statt ihrer
in einem sehr bestimmten Ton erwidert hätte:
„Meine Schwester hat keine Ursache, solche Begeg-
nung zu fürchten."
Dann fühlte sich die Hinausgewiesene fast leiden-
schaftlich zärtlich umschlungen, und noch als sich die
Thür der Wohnung bereits hinter ihr geschlossen hatte,
klangen ihr die letzten Worte Margaretens im Ohre nach:
„Sei tapfer, liebstes Herz! Vielleicht ändert sich's
schneller, als wir heute ahnen!"
Sie ging die Treppe hinab, aber schon auf der
ersten Stufe fühlte sie sich von einem Schwindel be-
fallen, der sie nötigte, sich an dem Geländer festzn-
halten. Ihr jugendlicher Körper lehnte sich endlich
gegen die Mißhandlung ans, die ihm durch alle die
Aufregungen dieses Tages und durch das lange Fasten
zugefügt worden war. Es flimmerte ihr vor den Augen,
und ihre Kniee zitterten, so daß sie in Versuchung war,
wieder umzukehren, um sich zunächst im Stübchen der
Schwester ein wenig zu erholen. Aber die Erinnerung
an Frau Göttersbergs ungnädige Miene raubte ihr
den Mut zu einem solchen Wagnis, und obwohl sie
noch immer alles um sich her wie durch einen Nebel
sah, setzte sie doch nach kurzem Verweilen ihren Weg
fort, von der Angst getrieben, daß die Gäste des Bank-
direktors sie hier in solchem Zustande sehen und daran
Anstoß nehmen könnten.
Aber es war schon zu spät; denn jetzt ging unten
die Thür, und Jenny vernahm ein klirrendes Geräusch
wie von dem Ausstößen eines Säbels. Sie bereute,
ihren Weg nicht doch über die Hintertreppe genommen
zu haben, und beschleunigte ihren Schritt. Doch das
Bangen vor der unvermeidlichen Begegnung, so thöricht
es auch sein mochte, trieb ihr aufs neue das Blut zum
Kopf. Undeutlich nur sah sie aus dem zitternden Nebel
die Umrisse einer menschlichen Gestalt vor sich auf-
tauchen. Dann sah und hörte sie nichts mehr.
Als sic die Augen wieder aufschlng, geschah es mit
einer unbeschreiblich wohligen Empfindung. Sie fühlte
sich sehr matt aber es war eine süße, wnnschlose
Mattigkeit, die köstlicher war als das Vollbewußtsein
strotzender Kraft. Daß sie auf weichem Polster in
einer ihr völlig unbekannten Umgebung lag, befremdete
sie während der ersten Sekunden nicht im geringsten.
Ohne den Kops zu erheben, und ohne ein Glied zu
rühren, musterte sie mit langsam umherwanderndem
Blick den Raum, in dem sie sich befand. Sie erkannte
mit voller Klarheit, daß es ein großes, schön aus-
gestattetes Zimmer war, angesüllt mit schier unzähligen,
wunderhübschen Dingen, die ihr allesamt höchst inter-
essant vorkamen. Niemals, auch nicht bei den Götters-
bergs, glaubte sie, ein so vornehmes und prächtiges
Gemach gesehen zu haben, obwohl alles in dunkeln
oder stark gedämpften Farben gehalten war und nir-
gends eine Einzelheit in aufdringlichem Prunk hervor-
trat. Sie fragte sich zunächst nicht, wie sie hierher-
gelangt sein könnte; aber sie wünschte mit vollem Be-
wußtsein, da zu bleiben, wo sie war. ungestört und
immer in dieser himmlischen Müdigkeit, die sie allen
Nachdenkens überhob.
Doch der angenehme Zustand, der glücklichste, in
dem sie sich je befunden, war leider nur von kurzer
Dauer. Und das jähe Erschrecken, mit dein er plötzlich
endete, war wie das peinvolle Ausfahren eines roh aus
holdem Traume Wachgerüttelten. Gerade vor ihr war
ein mattfarbiger, alter Gobelin, von dem sie nicht ge-
ahnt hatte, daß sich eine Thüröffnung hinter ihm ver-
barg, rasch zurückgeschlagen worden, und im nächsten
Moment hatte sie sich einein fremden Manne gegen-
über gesehen, einem jungen Offizier, dessen Gestalt ihr
wohl nur infolge ihres Entsetzens gewaltig erschien wie
die eines Riesen. Mit einem kleinen Aufschrei richtete
sie sich empor und streckte in halb instinktiver Abwehr
beide Arme gegen ihn aus.
„O mein Gott — wo bin ich? Was ist mit mir
geschehen?"
Aber die Bestürzung und Verlegenheit des andern
war vielleicht kaum geringer als die ihrige. Er war
sofort stehen geblieben, und in seinem hübschen, frischen
Gesicht, zu dem Jenny gar nicht mehr aufzublicken
wagte, spiegelte sich viel eher eine große Ratlosigkeit
als verwegene Unternehmungslust.
„Ich bitte Sie dringend, sich nicht zu beunruhigen,
mein Fräulein," sagte er, und schon der Klang seiner
Stimme hätte sie überzeugen müssen, daß er nichts
Böses im Schilde führe. „Der Arzt wird hoffentlich
sogleich da sein."
„Ein Arzt? Für mich? Ja, um des Himmels
willen, was soll denn das alles bedeuten? Sagen Sie
mir doch nur, wo ich bin, und wie ich hierher kommen
konnte."
„Gnädiges Fräulein müssen auf der Treppe von
einem Unwohlsein befallen worden sein; denn ich fand
Sie ohnmächtig vor der Thür meiner Wohnung. Viel-
leicht habe ich damit eine Ungeschicklichkeit begangen;
aber ich wußte mir im Augenblick wirklich nicht anders
zu helfen als damit, daß ich Sie hier hereintrug.
Draußen auf der Stiege konnte ich Sie doch unmöglich
liegen lassen."
Er sagte das befangen und bittend, als bedürfe seine
menschenfreundliche That einer Entschuldigung; beinahe
ängstlich waren seine treuherzigen blauen Äugen auf
Jenny gerichtet. Die aber sah es nicht, denn sie hatte
das Gesicht in den Händen verborgen und glaubte vor
Beschämung schier vergehen zu müssen. Daß der hilfs-
bereite junge Mann ein Wort des Dankes verdiene,
vergaß sie darüber ganz und gar.
„Ans der Treppe? Ja, jetzt erinnere ich mich —
mir wurde mit einemmal so schwindlig. Ich bin also
noch immer im Hause des Herrn Göttersberg?"
„Ich glaube allerdings, daß jemand dieses Namens
oben im zweiten Stockwerk wohnt. Wünschen Sie,
daß er benachrichtigt werde?"
„Nein, nein!" rief Jenny in größter Angst, indem
sie zugleich die Hände sinken ließ und ihm zum ersten-
mal wieder ihr blasses und noch in seiner Verstörtheit
so reizendes Gesichtchen zukehrte. „Nur das nicht! Ich
schämte mich zu Tode. Was sollte nur meine Schwester
von mir denken, wenn sie es erführe!"
„Durch mich wird niemand etwas erfahren, mein
Fräulein, falls Sie es so befehlen," versicherte er sehr
eifrig, obwohl er offenbar durchaus nicht begriff, was
an einer Ohnmacht so gar Verdammenswertes sein
könnte. Und dann, nachdem sie für eine kleine Weile
beide in verlegenem Schweigen verharrt waren, fügte
er, um doch etwas zu sagen, hinzu:
„Ich hoffe, daß Sie sich jetzt besser befinden, und
ich denke, daß mein Diener nun doch in jedem Äugen-
blick mit einem Arzt zurückkommen muß."
Die Erinnerung an den erwarteten Arzt wirkte
rascher und unmittelbarer auf Jennys Schwäche ein,
als es das beste Kräftigungsmittel vermocht hätte. Sie
sprang aus ihrer sitzenden Stellung auf die Füße und
warf sich straff in die Brust.
„Aber mir fehlt ja gar nichts — durchaus nichts.
Ich bin schon wieder ganz Wohl, und ich bitte Sie um
Gottes willen — lassen Sie mich fort!"
„Ich werde Sie gewiß nicht gegen Ihren Willen
zurückhalten, aber. . ."
„Nein, nein, kein Aber! Ich bin ja schon viel zu
lange hier. Wo ist denn nur die richtige Thür?"
Sie war an die ihr zunächst befindliche gelaufen
und dann entsetzt zurückgeprallt, da sie sich auf der
Schwelle eines Schlafzimmers gesehen. Mit flehendem
Blick wandte sie sich an den jungen Offizier, der felber-
rot geworden war wie ein Mädchen, und der durchaus
nicht gemacht schien, dem Flehen so schöner Augen
hartherzig zu widerstehen.
„Dort, mein Fräulein — aber wenn ich auch kein
Recht habe. Sie zu längerem Bleiben zu bewegen, zu
Fuß darf ich Sie Ihren Heimweg unmöglich antreten
lassen. Haben Sie es weit bis zu Ihrer Wohnung?"
„Ja, ziemlich weit. Und ich würde freilich lieber-
fahren, denn ich habe große Angst, daß es mir noch
einmal passieren könnte. Aber steht da nicht schon eine
Droschke vor der Thür?"
Sie hatte einen Blick durch das Fenster geworfen
und dabei die Laternen gesehen. Der Offizier schien
für einen Moment unschlüssig, was er antworten sollte;
dann aber sagte er rasch:
„Jawohl, und sie ist zu Ihrer Verfügung. Aber
fühlen Sie sich denn auch wirklich schon stark genug,
um sich nach Hause zu begeben?"
Sie hatte ganz kurz bejahen wollen, denn sie brannte
ja vor Ungeduld, fortzukommen; aber in dem Ton
seiner Frage war etwas gewesen, das sie halb wider
ihren Willen gezwungen hatte, zu ihm auszublicken,
und da bemerkte sie nicht nur — was ihr bisher in
ihrer Aufregung ganz entgangen war —, daß er ein
sehr hübsches und seines Gesicht hatte, sondern sie sah
auch auf diesem Gesicht einen Ausdruck so inniger
Teilnahme, daß es ihr seltsam warm ums Herz wurde
und daß sie zugleich zu ihrer Beschämung erkannte,
wie undankbar und unfreundlich sie sich bis zu diesem
Moment gegen ihn benommen.
„Ja, mein Herr, ich brauche Ihnen wirklich nicht
weiter zur Last zu fallen. Und ich — ich danke Ihnen
aufrichtig für Ihren Beistand."
Ganz so herzlich, wie sie es beabsichtigt hatte, war
das zwar nicht herausgekommen; aber den Offizier
mußte es doch erfreut haben, denn seine blauen Äugen
leuchteten noch Heller, und ein überaus liebenswürdiges
Lächeln erschien aus seinem Antlitz:
„Wenn es nur etwas mehr hätte sein können,"
sagte er. „Ich möchte mir so gern einmal die Rettungs-
medaille verdienen; aber ich fürchte, dafür reichte es
auch diesmal wieder nicht aus."
Der harmlose Scherz hatte offenbar nur den Zweck
gehabt, alle weiteren Danksagungen abzuschneiden. Man
konnte sich in solcher Situation unmöglich zartfühlender
und ritterlicher benehmen, als dieser junge Mann, den
Jenny jetzt, wo sie seine Größe an der ihrigen messen
konnte, zwar nicht mehr für einen Riesen hielt, dessen
Gestalt und Antlitz aber in ihrer Phantasie alle Vor-
stellungen lebendig werden ließ, die sie sich jemals von
Siegfried oder dem Helden der Frithjofsage gemacht.
Ohne sie noch einmal zum Verweilen aufzufordern,
hatte er die Thür des Zimmers vor ihr geöffnet und