586
Leutnants gut bekannt war; es wurde ihm von allen
Seiten zugetrunken. Mit mehreren Offizieren stand er
auf du und du.
„Wenn Sie wirklich zu uns kommen," sagte der
Oberst von Tusselfelde nach dem Diner zu Wellenbach,
„müssen Sie mir etwas Helsen. Es reißt unter den
jüngeren Herren ein Ton ein, der mir nicht gefällt.
Ich habe ja keine direkten Beweise, aber dieser Herr
Heller hat keinen guten Einfluß! Der Mann benimmt
sich tadellos, und dennoch, ich wollte, er wäre, wo der
Pfeffer wächst!"
Gerade weil Heller ihm nicht sympathisch war,
nahm Wellenbach ihn in Schutz, da er sich nicht durch
persönliche Abneigung bestimmen lassen wollte. Kurz
darauf wünschte ihm Heller „gesegnete Mahlzeit" und
sagte:
„Es war selbstverständlich ganz gegen meine Ab-
sicht, daß ich Ihnen beinahe die Bahn kreuzte. Die
Jessika ging mir so in die Hand, daß ich sie nur mit
Mühe steuern konnte."
„Aber ich bitte sehr, Herr Heller, ich habe nicht
daran gedacht. Ihnen einen Vorwurf zu machen."
Heller verbeugte sich höflich, und der Rittmeister
verließ bald darauf das Hotel „Zur Schwalbe". Es
war ihm beklommen zu Mut. Die Luft war schwül.
Im Westen über dem pietätvoll erhaltenen Gemäuer
des Neuthors wetterleuchtete es ab und an.
Er machte sich Vorwürfe. Welch kindische Motive
hatten ihn veranlaßt, das Rennen zu reiten. Ein, wahr-
scheinlich auch nur in seiner Einbildung gesehener, spöt-
tischer Ausdruck in Carlas Augen! Ueber die Jahre
war er denn doch hinaus, wo man gern den Weibern
im allgemeinen, und hier im besonderen, imponieren
möchte.
Das Musikcorps des Regiments konzertierte im
Hotelgarten. Ganz deutlich klangen die Melodien bis
zu Betows Hause.
Langsam stieg er die Treppen hinauf. Frau von
Betow brachte die Kinder zu Bett. Wellenbach kniete
vor dem Bett seines Jungen nieder und nahm Heino
in die Arme.
„Adieu, kleiner Kerl! Bleib gesund und brav!
Behalt deinen Vater etwas lieb!"
Das Wort war mehr eine Aeußerung seiner Ge-
danken, als daß er sich damit direkt an das Kind hatte
wenden wollen. Der Junge war sehr anschmiegend,
eine Natur, die nach Zärtlichkeit verlangte. Er konnte
gar nicht begreifen, weshalb sein Vater abreisen müsse.
„Er hat seinen Vater sehr lieb, nicht wahr, Heino?"
fragte Frau von Betow.
„Aber Tante Carla habe ich noch lieber," meinte
Heino mit der unbekümmerten Ehrlichkeit von Kindern.
Wellenbach bezwang das momentane Unbehagen
über diese Bemerkung, strich dem Knaben die blonden
Haare aus der Stirn und sagte: „Bleib nur so ehrlich!"
„Bitte, gehen Sie voraus in den Garten!" bat ihn
Frau von Betow. „Ich habe^ noch einen Augenblick
im Hause zu thun. Die Lampe steht im Sommer-
häuschen; in den Zimmern ist es unerträglich heiß."
Wellenbach ging durchs Wohnzimmer in die Veranda
und stieg langsam die Stufen zum Garten hinab.
„Guten Abend, Herr Rittmeister!"
Er fuhr bei dem unerwarteten Klang von Carlas
Stimme zusammen, zumal er die Sprecherin zuerst
nicht entdecken konnte. Sie saß aus einer Bank unter
der großen Kastanie, deren tiefhängende, weitgespreizte
Zweige im Verein mit der früh hereingebrochenen
Dunkelheit Carla Tilgenhardt trotz ihres Hellen Kleides
beinahe unsichtbar machte.
„Hier ist es noch einigermaßen erträglich," fügte
sie hinzu.
Es blieb ihm nichts übrig, als auch unter den
Schatten des Baumes zu treten.
„Ich komme nur auf ein Viertelstündchen hierher,
um Ihnen und Frau von Betow Lebewohl zu sagen."
Er ahnte mehr als er sah, daß ihre Hand sich ihm
näherte, so dunkel war es. Als er danach tastete, be-
rührte er ihren Unterarm.
„Verzeihung, gnädige Frau!"
„Ich bin doch nicht von Glas!" lachte sie und
schloß ihre Finger mit festem Druck um seine Rechte.
Einen Augenblick glaubte er, daß ihm der doch nur
mäßig genossene Wein trotzdem das Blut heiß gemacht
habe. Er sehnte sich nach Licht und nach Frau von
Betows Gegenwart.
„Bitte, nehmen Sie hier Platz, Herr Rittmeister!"
Sie rückte zur Seite, und er ließ sich neben ihr
nieder. Es war still im Haus und Garten. Die Musik
im Hotel „Zur Schwalbe" pausierte.
„Gnädige Frau, lassen Sie uns als gute Freunde
auseinander gehen," begann er. „Ich bin zuweilen
gereizt gewesen und weiß selbst nicht, woher die bitteren
Stimmungen kommen."
„Sprechen wir nicht davon, Herr Rittmeister. Ich
habe wohl am wenigsten Grund, andern in dieser Be-
ziehunb etwas übel zu nehmen. Mein ganzes Wesen
steht in offenem Widerspruch mit all Ihren An-
schauungen. Ja, lachen Sie nur! Ich kenne mich und
Illustrierte Welt.
kenne Sie, oder glaube wenigstens. Sie zu kennen!
Meine Natur ist vom ersten Kindesschrei an in Wider-
spruch mit meiner Umgebung gewesen; ich habe mich
innerlich und äußerlich stets aufgelehnt, zuweilen auch
auslehnen müssen, denn anlehnen konnte ich mich nie,
höchstens an die Toten," sagte sie düster.
Wellenbach fühlte das Mitleid mit dieser Frau ihn
überwältigen; er brachte kein teilnehmendes Wort
heraus.
Erst nach einer Pause sagte er:
„Wollen Sie den Winter in Friedrichshos ver-
bringen?"
„Weiß nicht," sagte sie. „Es ist ja so gleichgültig,
wo und wie ich lebe. Langweilig ist's überall."
„Gegen Langeweile giebt es nur ein Mittel, gnädige
Frau — Arbeit!"
„Ach Gott, nun fangen Sie wieder an zu morali-
sieren! An Ihnen ist wirklich ein Reformator ver-
loren gegangen. Ich bin ja allerdings reformbedürftig,
und von Ihnen lasse ich mir's auch gefallen. Lang-
weilig war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Sagen
wir — mutterseelenallein, einsam, mit Düsterfelde im
Hintergrund! Vielleicht gehe ich nach Paris. Ich weiß
nur nicht, wen ich mitnehmen soll. Seitdem die Schult-
Weg sich die Füße verbrannt hat, liest sie nur noch die
Historie von den drei Männern im feurigen Ofen.
Kennen Sie zufällig eine taubstumme ältere Dame aus
besseren Kreisen?"
Trotz der sarkastischen Schlußworte klang es durch
dieselben wie ein Aufschrei aus einem einsamen Herzen.
Er schwieg wieder, weil es ihm war, als fehle ihm die
Luft, um Worte zu sprechen. Er hörte ihre Atemzüge.
„Das eine bleibt sicher," begann sie wieder leise,
„Malwine und Sie sind die einzigen Menschen, die es
ehrlich mit mir meinen."
„Habe ich Sie heute verletzt, weil ich den Ehrenpreis
nicht annahm?" fragte er.
„Nicht im geringsten!" war die kurze Antwort.
Durch das Laub der Kastanie ging ein leises
Rauschen. Das Herz klopfte ihm. Dieser Jasmindust
aus den Gartenhecken von Heißelbarths war unerträg-
lich. Seine rechte Hand, die er mit dem Daumen an
den Schnüren seiner Attila sestgehakt hatte, sank lang-
sam herab und berührte dabei auf der Bank Carlas
Linke. Sie rührte sich nicht. Die Hände lagen beide
in der Dunkelheit unbeweglich nebeneinander, als fehle
jedem die Kraft, sie zurückzuziehen.
Plötzlich setzte die Musik wieder schmetternd ein:
„Ich hatt' einen Kameraden!" Carla summte die
Worte leise mit. Da stand vor seiner Seele Rose-
maries Bild, das Bild seines lieben, frohen Kame-
raden. Er stand schnell auf.
„Wir werden uns hier vielleicht im nächsten Jahre
Wiedersehen."
„Vielleicht!"
„Wellenbach!" rief Malwine vom Hause her, „ich
bitte, bringen Sie die Lampe mit hierher auf die
Veranda. Ich glaube, es ist kühler hier oben!"
„Wir kommen schon," sagte Carla laut. Der harte
Ton in ihrer Stimme that Wellenbach ordentlich weh.
„Furchtbar, Malwe! Ich sitze hier mit einem
Husarenoffizier in tiefster Finsternis, und die Musik
spielt dazu: ,Jch hatt' einen Kameraden!' Mehr kann
doch kein Mensch verlangen."
Sie eilte ihm voraus nach der Veranda, während
er mit der Lampe folgte.
„Also leben Sie wohl," sagte sie. „Sie werden
mit Malwine noch Familiensorgen besprechen müssen,
wobei ich überflüssig bin. Dieser unsolide Betow sitzt
natürlich noch beim Skat."
Wie sie in der Thür zum dunkeln Wohnzimmer
stand, erschien ihr Gesicht totenbleich. Vielleicht war
es eine Täuschung, denn das Licht der Lampe schien
von unten nach oben auf ihre Züge, dann war sie ver-
schwunden.
Malwine, die keine Ahnung gehabt hatte, daß Carla
im Garten gesessen, war außer sich. Sie sah Wellen-
bach Prüfend an; er sah so ruhig aus wie möglich,
und da er gleich von Heino zu sprechen begann, be-
ruhigte sie sich wieder. Als er nach einer Viertelstunde
sich erhob, um noch einmal in sein Zimmer hinüber
zu gehen, die Uniform mit einem Reisezivil zu ver-
tauschen, sagte sie:
„Sie sind doch mit Carla im Frieden auseinander
gegangen?"
„Vollständig, gnädige Frau! Bleiben Sie ihr nur
treu, sie hat es nötig!"
Er küßte ihr die Hand und ging. Von seinem
Fenster aus konnte er erkennen, daß Carla drüben am
offenen Fenster saß. Er beobachtete sie einige Sekunden.
Sie hielt den Kopf augenscheinlich in die Hand gestützt
und rührte sich nicht. Die Musik spielte ein Potpourri
von Reiterlredern. Ihm klangen nur Dissonanzen ins
Ohr. Schnell schloß er das Fenster und zog die
Vitragen zu.
*
Carla Tilgenhardt hatte Heißelbarths veranlaßt,
für den Rest des Sommers und während des Winters,
solange der Neubau dauern würde, nach Friedrichshos
hinauszuziehen. Außer seiner gewöhnlichen Arbeit, die
der Baumeister gerade so gut von dort aus besorgen
konnte, da ihm stets Fuhrwerk zu Gebote stand, hatte
er keine besonderen Aufträge übernommen. Die Anlage
der von Heller vorgeschlagenen Kalkösen sollte er eben-
falls leiten.
Der unversehrte Flügel des Herrenhauses, dessen
Räume in alten Zeiten als Gast- und Gesindezimmer
benutzt worden waren, wurde hergerichtet, so daß Carla
mit dem Ehepaar zusammen dort wohnen konnte.
Das war nun nach Ansicht der Leute wieder eine
ganz verrückte Idee von dieser Frau. Moralisch ließ
sich auf der einen Seite nichts dagegen einwenden, aus
der andern aber sehr viel, denn erstens gehörten Heißel-
barths nicht eigentlich zur ersten Gesellschaft, und
zweitens wußte jedes Kind in Düsterfelde, daß Heißel-
barth gern beim Wein saß; er trank gern, aber er
betrank sich nie.
Carla Tilgenhardt meinte, nie ein so behagliches
Leben geführt zu haben. Sie kam kaum mehr in die
Stadt.
Was that sie? Womit vertrieb sie sich die Zeit?
Man zerbrach sich den Kopf darüber. Früher war sie
wenigstens aus die Nachbargüter gekommep, jetzt schien
sie sich vollständig von der Außenwelt abschließen zu
wollen.
In Wahrheit hatte sie sich mit fast fanatischem
Eifer unter Heißelbarths Anleitung an die Studien
mittelalterlicher Kunst und Kunstgeschichte gemacht.
Der Baumeister, der, ehe er Architekt wurde, einige
Jahre an der Malerakademie in München studiert hatte,
gab ihr Zeichnen- und Malunterricht. Jede Zeichnung
für den Bau, jedes Relief für Balkenverzierung, alles
besprach und beriet sie mit ihm.
Nur arbeiten, nur beschäftigt sein, keine Zeit haben
zum Denken und Grübeln!
Heller fand sich jeden Abend auf dem neutralen
Boden des Heißelbarthschen Wohnzimmers ein. Man
saß an den Herbstabenden zusammen und plauderte.
Carla las fast alles, was ihr Heller empfahl, mit dem
nachher das Gelesene besprochen wurde. Sein durch-
dringender, klarer Verstand, die Schärfe seines Urteils
interessierte sie, er gewann mehr und mehr geistigen
Einfluß auf Carla.
Heller selbst verkehrte viel in der Stadt, sowohl
in den besseren Bürgerkreisen als mit den Offizieren.
Selbst aus einer Offiziersfamilie stammend, beherrschte
er die Formen der guten Gesellschaft vollständig. Heißel-
barth hielt sich vom Weintrinken säst ganz zurück, und
seine Frau war glücklich darüber. Nur Sonnabends
pflegte er zu Heller hinüber zu gehen, wenn sich dort
einige Inspektoren der Umgegend versammelten. Er
kam dann immer erst spät zu Bett.
Mit Marie Schultweg hatte sich Carla endgültig
auseinandergesetzt. Nach ihrer Ansicht war die Alte
vollständig übergeschnappt. Sie wollte sich totlachen,
als sie herausfand, daß die würdige Marie sich in
Herrn Heller verliebt hatte und auf ihre Herrin eifer-
süchtig war. Daß Heller, während die Schultweg im
Pfarrhaus lag, sich fast täglich nach ihrem Befinden
erkundigte und ihr Lektüre verschaffte, sowie kleine Ge-
schenke gemacht hatte, wußte Carla nicht.
Letztere richtete für die Alte in Waltersdorf eine
kleine Wohnung ein und zahlte ihr monatlich hundert
Mark. Dort saß nun Marie zwischen ihren ewigen
Lämpchen, von denen in jeder Zimmerecke eins hing,
und klatschte mit der Nachbarin oder fuhr morgens
mit dem Milchwagen in die Stadt, um Bekannte zu
besuchen, vor allem ihre Schwägerin, die Frau des am
Düsterfelder Tageblatt angestellten Redakteurs. Einer-
seits erfuhr sie dort immer das Neueste, andrerseits
konnte sie alte und neue Historien gut los werden.
„Es ist mir sehr schmeichelhaft, gnädige Frau,"
hatte Heller spöttisch gesagt, „daß ich zum Ideal
Schultwegscher Geschmacksansprüche geworden bin. Ich
fühle mich moralisch gehoben seitdem. Ab und an,
wenn ich durch Waltersdorf komme, spreche ich bei
Fräulein Marie vor. Sie macht vorzüglichen Kaffee,
und man hört immer das Neueste aus Düsterselde und
Umgegend. Manchmal ist's ganz pläsierlich."
Heute nun hatte Heller mit dem Ortsvorstand in
Waltersdorf eine Besprechung gehabt, und als er vor
Maries Häuschen vorüberging, stand sie wie immer in
der offenen Hausthür.
„Na, gut zuwege, Fräulein Schultweg?" fragte er,
den Hut lüftend.
„Danke für die Nachfrage. Wollen Sie nicht ein
Täßchen Kaffee trinken?"
„Mit Vergnügen! Sie werden jeden Tag jünger,
Fräulein," meinte er, ihr ins Zimmer folgend, wo er
im Sofa Platz nehmen mußte und sich behaglich eine
Zigarre anzündete.
Ob Heißelbarths den ganzen Winter in Friedrichs-
Hof bleiben würden? fragte sie.
„Wer weiß; am Ende bleiben sie ganz dort. Frau
Tilgenhardt hat an den Leuten Gefallen gesunden und
sprach neulich davon, ob man den Baumeister nicht als
Leutnants gut bekannt war; es wurde ihm von allen
Seiten zugetrunken. Mit mehreren Offizieren stand er
auf du und du.
„Wenn Sie wirklich zu uns kommen," sagte der
Oberst von Tusselfelde nach dem Diner zu Wellenbach,
„müssen Sie mir etwas Helsen. Es reißt unter den
jüngeren Herren ein Ton ein, der mir nicht gefällt.
Ich habe ja keine direkten Beweise, aber dieser Herr
Heller hat keinen guten Einfluß! Der Mann benimmt
sich tadellos, und dennoch, ich wollte, er wäre, wo der
Pfeffer wächst!"
Gerade weil Heller ihm nicht sympathisch war,
nahm Wellenbach ihn in Schutz, da er sich nicht durch
persönliche Abneigung bestimmen lassen wollte. Kurz
darauf wünschte ihm Heller „gesegnete Mahlzeit" und
sagte:
„Es war selbstverständlich ganz gegen meine Ab-
sicht, daß ich Ihnen beinahe die Bahn kreuzte. Die
Jessika ging mir so in die Hand, daß ich sie nur mit
Mühe steuern konnte."
„Aber ich bitte sehr, Herr Heller, ich habe nicht
daran gedacht. Ihnen einen Vorwurf zu machen."
Heller verbeugte sich höflich, und der Rittmeister
verließ bald darauf das Hotel „Zur Schwalbe". Es
war ihm beklommen zu Mut. Die Luft war schwül.
Im Westen über dem pietätvoll erhaltenen Gemäuer
des Neuthors wetterleuchtete es ab und an.
Er machte sich Vorwürfe. Welch kindische Motive
hatten ihn veranlaßt, das Rennen zu reiten. Ein, wahr-
scheinlich auch nur in seiner Einbildung gesehener, spöt-
tischer Ausdruck in Carlas Augen! Ueber die Jahre
war er denn doch hinaus, wo man gern den Weibern
im allgemeinen, und hier im besonderen, imponieren
möchte.
Das Musikcorps des Regiments konzertierte im
Hotelgarten. Ganz deutlich klangen die Melodien bis
zu Betows Hause.
Langsam stieg er die Treppen hinauf. Frau von
Betow brachte die Kinder zu Bett. Wellenbach kniete
vor dem Bett seines Jungen nieder und nahm Heino
in die Arme.
„Adieu, kleiner Kerl! Bleib gesund und brav!
Behalt deinen Vater etwas lieb!"
Das Wort war mehr eine Aeußerung seiner Ge-
danken, als daß er sich damit direkt an das Kind hatte
wenden wollen. Der Junge war sehr anschmiegend,
eine Natur, die nach Zärtlichkeit verlangte. Er konnte
gar nicht begreifen, weshalb sein Vater abreisen müsse.
„Er hat seinen Vater sehr lieb, nicht wahr, Heino?"
fragte Frau von Betow.
„Aber Tante Carla habe ich noch lieber," meinte
Heino mit der unbekümmerten Ehrlichkeit von Kindern.
Wellenbach bezwang das momentane Unbehagen
über diese Bemerkung, strich dem Knaben die blonden
Haare aus der Stirn und sagte: „Bleib nur so ehrlich!"
„Bitte, gehen Sie voraus in den Garten!" bat ihn
Frau von Betow. „Ich habe^ noch einen Augenblick
im Hause zu thun. Die Lampe steht im Sommer-
häuschen; in den Zimmern ist es unerträglich heiß."
Wellenbach ging durchs Wohnzimmer in die Veranda
und stieg langsam die Stufen zum Garten hinab.
„Guten Abend, Herr Rittmeister!"
Er fuhr bei dem unerwarteten Klang von Carlas
Stimme zusammen, zumal er die Sprecherin zuerst
nicht entdecken konnte. Sie saß aus einer Bank unter
der großen Kastanie, deren tiefhängende, weitgespreizte
Zweige im Verein mit der früh hereingebrochenen
Dunkelheit Carla Tilgenhardt trotz ihres Hellen Kleides
beinahe unsichtbar machte.
„Hier ist es noch einigermaßen erträglich," fügte
sie hinzu.
Es blieb ihm nichts übrig, als auch unter den
Schatten des Baumes zu treten.
„Ich komme nur auf ein Viertelstündchen hierher,
um Ihnen und Frau von Betow Lebewohl zu sagen."
Er ahnte mehr als er sah, daß ihre Hand sich ihm
näherte, so dunkel war es. Als er danach tastete, be-
rührte er ihren Unterarm.
„Verzeihung, gnädige Frau!"
„Ich bin doch nicht von Glas!" lachte sie und
schloß ihre Finger mit festem Druck um seine Rechte.
Einen Augenblick glaubte er, daß ihm der doch nur
mäßig genossene Wein trotzdem das Blut heiß gemacht
habe. Er sehnte sich nach Licht und nach Frau von
Betows Gegenwart.
„Bitte, nehmen Sie hier Platz, Herr Rittmeister!"
Sie rückte zur Seite, und er ließ sich neben ihr
nieder. Es war still im Haus und Garten. Die Musik
im Hotel „Zur Schwalbe" pausierte.
„Gnädige Frau, lassen Sie uns als gute Freunde
auseinander gehen," begann er. „Ich bin zuweilen
gereizt gewesen und weiß selbst nicht, woher die bitteren
Stimmungen kommen."
„Sprechen wir nicht davon, Herr Rittmeister. Ich
habe wohl am wenigsten Grund, andern in dieser Be-
ziehunb etwas übel zu nehmen. Mein ganzes Wesen
steht in offenem Widerspruch mit all Ihren An-
schauungen. Ja, lachen Sie nur! Ich kenne mich und
Illustrierte Welt.
kenne Sie, oder glaube wenigstens. Sie zu kennen!
Meine Natur ist vom ersten Kindesschrei an in Wider-
spruch mit meiner Umgebung gewesen; ich habe mich
innerlich und äußerlich stets aufgelehnt, zuweilen auch
auslehnen müssen, denn anlehnen konnte ich mich nie,
höchstens an die Toten," sagte sie düster.
Wellenbach fühlte das Mitleid mit dieser Frau ihn
überwältigen; er brachte kein teilnehmendes Wort
heraus.
Erst nach einer Pause sagte er:
„Wollen Sie den Winter in Friedrichshos ver-
bringen?"
„Weiß nicht," sagte sie. „Es ist ja so gleichgültig,
wo und wie ich lebe. Langweilig ist's überall."
„Gegen Langeweile giebt es nur ein Mittel, gnädige
Frau — Arbeit!"
„Ach Gott, nun fangen Sie wieder an zu morali-
sieren! An Ihnen ist wirklich ein Reformator ver-
loren gegangen. Ich bin ja allerdings reformbedürftig,
und von Ihnen lasse ich mir's auch gefallen. Lang-
weilig war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Sagen
wir — mutterseelenallein, einsam, mit Düsterfelde im
Hintergrund! Vielleicht gehe ich nach Paris. Ich weiß
nur nicht, wen ich mitnehmen soll. Seitdem die Schult-
Weg sich die Füße verbrannt hat, liest sie nur noch die
Historie von den drei Männern im feurigen Ofen.
Kennen Sie zufällig eine taubstumme ältere Dame aus
besseren Kreisen?"
Trotz der sarkastischen Schlußworte klang es durch
dieselben wie ein Aufschrei aus einem einsamen Herzen.
Er schwieg wieder, weil es ihm war, als fehle ihm die
Luft, um Worte zu sprechen. Er hörte ihre Atemzüge.
„Das eine bleibt sicher," begann sie wieder leise,
„Malwine und Sie sind die einzigen Menschen, die es
ehrlich mit mir meinen."
„Habe ich Sie heute verletzt, weil ich den Ehrenpreis
nicht annahm?" fragte er.
„Nicht im geringsten!" war die kurze Antwort.
Durch das Laub der Kastanie ging ein leises
Rauschen. Das Herz klopfte ihm. Dieser Jasmindust
aus den Gartenhecken von Heißelbarths war unerträg-
lich. Seine rechte Hand, die er mit dem Daumen an
den Schnüren seiner Attila sestgehakt hatte, sank lang-
sam herab und berührte dabei auf der Bank Carlas
Linke. Sie rührte sich nicht. Die Hände lagen beide
in der Dunkelheit unbeweglich nebeneinander, als fehle
jedem die Kraft, sie zurückzuziehen.
Plötzlich setzte die Musik wieder schmetternd ein:
„Ich hatt' einen Kameraden!" Carla summte die
Worte leise mit. Da stand vor seiner Seele Rose-
maries Bild, das Bild seines lieben, frohen Kame-
raden. Er stand schnell auf.
„Wir werden uns hier vielleicht im nächsten Jahre
Wiedersehen."
„Vielleicht!"
„Wellenbach!" rief Malwine vom Hause her, „ich
bitte, bringen Sie die Lampe mit hierher auf die
Veranda. Ich glaube, es ist kühler hier oben!"
„Wir kommen schon," sagte Carla laut. Der harte
Ton in ihrer Stimme that Wellenbach ordentlich weh.
„Furchtbar, Malwe! Ich sitze hier mit einem
Husarenoffizier in tiefster Finsternis, und die Musik
spielt dazu: ,Jch hatt' einen Kameraden!' Mehr kann
doch kein Mensch verlangen."
Sie eilte ihm voraus nach der Veranda, während
er mit der Lampe folgte.
„Also leben Sie wohl," sagte sie. „Sie werden
mit Malwine noch Familiensorgen besprechen müssen,
wobei ich überflüssig bin. Dieser unsolide Betow sitzt
natürlich noch beim Skat."
Wie sie in der Thür zum dunkeln Wohnzimmer
stand, erschien ihr Gesicht totenbleich. Vielleicht war
es eine Täuschung, denn das Licht der Lampe schien
von unten nach oben auf ihre Züge, dann war sie ver-
schwunden.
Malwine, die keine Ahnung gehabt hatte, daß Carla
im Garten gesessen, war außer sich. Sie sah Wellen-
bach Prüfend an; er sah so ruhig aus wie möglich,
und da er gleich von Heino zu sprechen begann, be-
ruhigte sie sich wieder. Als er nach einer Viertelstunde
sich erhob, um noch einmal in sein Zimmer hinüber
zu gehen, die Uniform mit einem Reisezivil zu ver-
tauschen, sagte sie:
„Sie sind doch mit Carla im Frieden auseinander
gegangen?"
„Vollständig, gnädige Frau! Bleiben Sie ihr nur
treu, sie hat es nötig!"
Er küßte ihr die Hand und ging. Von seinem
Fenster aus konnte er erkennen, daß Carla drüben am
offenen Fenster saß. Er beobachtete sie einige Sekunden.
Sie hielt den Kopf augenscheinlich in die Hand gestützt
und rührte sich nicht. Die Musik spielte ein Potpourri
von Reiterlredern. Ihm klangen nur Dissonanzen ins
Ohr. Schnell schloß er das Fenster und zog die
Vitragen zu.
*
Carla Tilgenhardt hatte Heißelbarths veranlaßt,
für den Rest des Sommers und während des Winters,
solange der Neubau dauern würde, nach Friedrichshos
hinauszuziehen. Außer seiner gewöhnlichen Arbeit, die
der Baumeister gerade so gut von dort aus besorgen
konnte, da ihm stets Fuhrwerk zu Gebote stand, hatte
er keine besonderen Aufträge übernommen. Die Anlage
der von Heller vorgeschlagenen Kalkösen sollte er eben-
falls leiten.
Der unversehrte Flügel des Herrenhauses, dessen
Räume in alten Zeiten als Gast- und Gesindezimmer
benutzt worden waren, wurde hergerichtet, so daß Carla
mit dem Ehepaar zusammen dort wohnen konnte.
Das war nun nach Ansicht der Leute wieder eine
ganz verrückte Idee von dieser Frau. Moralisch ließ
sich auf der einen Seite nichts dagegen einwenden, aus
der andern aber sehr viel, denn erstens gehörten Heißel-
barths nicht eigentlich zur ersten Gesellschaft, und
zweitens wußte jedes Kind in Düsterfelde, daß Heißel-
barth gern beim Wein saß; er trank gern, aber er
betrank sich nie.
Carla Tilgenhardt meinte, nie ein so behagliches
Leben geführt zu haben. Sie kam kaum mehr in die
Stadt.
Was that sie? Womit vertrieb sie sich die Zeit?
Man zerbrach sich den Kopf darüber. Früher war sie
wenigstens aus die Nachbargüter gekommep, jetzt schien
sie sich vollständig von der Außenwelt abschließen zu
wollen.
In Wahrheit hatte sie sich mit fast fanatischem
Eifer unter Heißelbarths Anleitung an die Studien
mittelalterlicher Kunst und Kunstgeschichte gemacht.
Der Baumeister, der, ehe er Architekt wurde, einige
Jahre an der Malerakademie in München studiert hatte,
gab ihr Zeichnen- und Malunterricht. Jede Zeichnung
für den Bau, jedes Relief für Balkenverzierung, alles
besprach und beriet sie mit ihm.
Nur arbeiten, nur beschäftigt sein, keine Zeit haben
zum Denken und Grübeln!
Heller fand sich jeden Abend auf dem neutralen
Boden des Heißelbarthschen Wohnzimmers ein. Man
saß an den Herbstabenden zusammen und plauderte.
Carla las fast alles, was ihr Heller empfahl, mit dem
nachher das Gelesene besprochen wurde. Sein durch-
dringender, klarer Verstand, die Schärfe seines Urteils
interessierte sie, er gewann mehr und mehr geistigen
Einfluß auf Carla.
Heller selbst verkehrte viel in der Stadt, sowohl
in den besseren Bürgerkreisen als mit den Offizieren.
Selbst aus einer Offiziersfamilie stammend, beherrschte
er die Formen der guten Gesellschaft vollständig. Heißel-
barth hielt sich vom Weintrinken säst ganz zurück, und
seine Frau war glücklich darüber. Nur Sonnabends
pflegte er zu Heller hinüber zu gehen, wenn sich dort
einige Inspektoren der Umgegend versammelten. Er
kam dann immer erst spät zu Bett.
Mit Marie Schultweg hatte sich Carla endgültig
auseinandergesetzt. Nach ihrer Ansicht war die Alte
vollständig übergeschnappt. Sie wollte sich totlachen,
als sie herausfand, daß die würdige Marie sich in
Herrn Heller verliebt hatte und auf ihre Herrin eifer-
süchtig war. Daß Heller, während die Schultweg im
Pfarrhaus lag, sich fast täglich nach ihrem Befinden
erkundigte und ihr Lektüre verschaffte, sowie kleine Ge-
schenke gemacht hatte, wußte Carla nicht.
Letztere richtete für die Alte in Waltersdorf eine
kleine Wohnung ein und zahlte ihr monatlich hundert
Mark. Dort saß nun Marie zwischen ihren ewigen
Lämpchen, von denen in jeder Zimmerecke eins hing,
und klatschte mit der Nachbarin oder fuhr morgens
mit dem Milchwagen in die Stadt, um Bekannte zu
besuchen, vor allem ihre Schwägerin, die Frau des am
Düsterfelder Tageblatt angestellten Redakteurs. Einer-
seits erfuhr sie dort immer das Neueste, andrerseits
konnte sie alte und neue Historien gut los werden.
„Es ist mir sehr schmeichelhaft, gnädige Frau,"
hatte Heller spöttisch gesagt, „daß ich zum Ideal
Schultwegscher Geschmacksansprüche geworden bin. Ich
fühle mich moralisch gehoben seitdem. Ab und an,
wenn ich durch Waltersdorf komme, spreche ich bei
Fräulein Marie vor. Sie macht vorzüglichen Kaffee,
und man hört immer das Neueste aus Düsterselde und
Umgegend. Manchmal ist's ganz pläsierlich."
Heute nun hatte Heller mit dem Ortsvorstand in
Waltersdorf eine Besprechung gehabt, und als er vor
Maries Häuschen vorüberging, stand sie wie immer in
der offenen Hausthür.
„Na, gut zuwege, Fräulein Schultweg?" fragte er,
den Hut lüftend.
„Danke für die Nachfrage. Wollen Sie nicht ein
Täßchen Kaffee trinken?"
„Mit Vergnügen! Sie werden jeden Tag jünger,
Fräulein," meinte er, ihr ins Zimmer folgend, wo er
im Sofa Platz nehmen mußte und sich behaglich eine
Zigarre anzündete.
Ob Heißelbarths den ganzen Winter in Friedrichs-
Hof bleiben würden? fragte sie.
„Wer weiß; am Ende bleiben sie ganz dort. Frau
Tilgenhardt hat an den Leuten Gefallen gesunden und
sprach neulich davon, ob man den Baumeister nicht als