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Seite 2

1S3l / Folge 17


Schluß
Hat man die zur Verfügung stehenden Jahr-
gänge schon eingezogen? Auf welche Truppengat-
tungen sind sie verteilt worden und vor allem,
wann sollen sie so ausgebildet sein, daß von ihnen
eine Verstärkung der feindlichen Heere zu erwar-
ten ist? Das find Fragen, die im Augenblick
weder von I. Matthesius noch von Annemarie
Lesser zu beantworten sind, so oft auch militä-
rische Stellen diese Fragen stellen. Man muh da
noch ein paar Wochen warten, bis die Aus-
gehobenen sicher eingerückt sind, dann kann man
erst in den Garnisonen des feindlichen Landes
erkunden lasten.
Einen Tag bevor die diesbezüglichen Anweisun-
gen an den Hauptagenten in Paris abgehen
sollen, geschieht etwas Unerwartetes. Ueber die
Schweiz kommt ein Kurier und bringt aus Paris
eine entsetzliche Nachricht. Dort hat man zu er-
mitteln vermocht, daß die französische Gegen-
spionage schon seit Wochen eine Liste in der Hand
hat, auf der die genauen Personalien der wichtig-
sten, in den großen Städten Frankreichs statio-
nierten Agenten verzeichnet stehen. Ein Mann,
der schon in den Diensten des Monsieur Pissard
gestanden hat, hatte eine Unvorsichtigkeit be-
gangen, war ergriffen und als deutscher Agent
entlarvt worden. Die Behörden hatten ihm nicht
nur die Rettung vor dem Tode, sondern auch die
Freiheit und eine große Geldsumme zugesagt,
wenn er seine Gefährten verriet. Er hatte nicht
gezaudert, sein Leben zu retten.
Der Hauptagent in Paris, ein deutscher Offi-
zier, der noch zu Lebzeiten des Konstantin Cou-
doyanis von Annemarie Lesser eingeführt worden
war, teilte mit, daß man nicht wisse, wen alles
der Mann verraten habe, daß es ihm sogar un-
bekannt sei, wieviel der entlarvte Agent über-
haupt von den Personen und dem Gang des
deutschen Nachrichtendienstes in Frankreich ge-
wußt habe. Eines war aber sicher, daß der
Hauptagent selbst verraten war, und er schrieb,
daß dieser Brief, mit dem er diese entsetzliche
Nachricht übermittelte, vielleicht der letzte sei,
den er aus Frankreich herausbefördern könne.
Der Hauptagent teilte mit, daß er trotz allem
auf dem Posten bleibe und sich als Offizier be-
trachte, der vor dem Feinde stehe.
Als Annemarie Lesser diesen Chiffrebrief ent-
rätselt hatte, schob sie den Text wortlos dem
Herrn I. Matthesius hinüber. Diese Nachricht
traf die beiden schwer. Augenscheinlich verfolgten
die Franzosen die Taktik, die Agenten zunächst
einmal ruhig weiter arbeiten zu lassen, sie aber
im stillen zu beobachten, um sie dann mit einem
großen Schlage sämtlich ausheben und an die
Wand stellen zu können. Sicherlich würden sie
das in einem Augenblick tun, in dem es ihnen
ganz besonders darauf ankam, ihre Maßnahmen
hinter der Front zu verschleiern.
Gelang den Franzosen der Plan, dann war es
sicher, daß die deutsche Heeresleitung gerade in
einem Augenblick nicht mit Nachrichten versorgt
wurde, in dem die Franzosen einen entscheidenden
Schlag planten. Als man sich über diese Konse-
quenzen klar geworden war, erklärte Mademoi-
selle docteur:
„Zch werde nach Paris fahren." In der ganzen
Zeit ihrer Zusammenarbeit war es das erstemal,
daß I. Matthesius den ernstlichen Versuch
machte, sie vo-, einem gefährlichen Vorhaben ab;
zubringen. Drei Tage brauchte Annemarie Lesser
zu den Vorbereitungen für ihre gefährliche Fahrt.
Drei Tage lang bekam Matthesius sie nicht zu
Gesicht, und als sie dann zu ihm kam, da fuhr er
sie an:
„Wie kommen Sie denn in dieses Zimmer?
Was wollen Sie denn hier? Wer sind Sie?"
Es dauert selbst für die scharfen Augen des
Herrn Matthesius einige Zeit, bis er seine
Kameradin erkennt. Vor ihm steht ein Mädchen
mit tizianroten Haaren, mit unreinem Teint,
schlampigen Rock, ausgetretenen Schuhen, geflick-
ten Strümpfen, gedunsenen Zügen und mit einem
stupiden Eesichtsausdruck.
Dieses Mädchen fragt nach einigen Tagen in
Paris in einem noch sauheren, aber verschlißenen

l^us clsm kucki „Lpionsgs" von sil. k. ksrnclorff)

blauen Mantel und mit einem unmöglichen
Strohhut mit roten Bändern bei den Stellen-
vermittlerinnen nach Arbeit. Sie stammt aus
der Normandie, ihre Herrschaft, die mit ihr in
Toulon war, hat sie in Paris entlohnt, es waren
Engländer, die nach Hause gefahren sind. Sie
zeigt ihre Papiere, sie ist „fleißig, willig und ehr-
lich". Fast überall bietet man ihr eine Stellung
an, aber sie kann sich nicht entschließen, sie geht
durch die Straßen, besieht die Denkmäler, die
öffentlichen Gebäude und fragt, einen Papp-
karton mit ihrer Habe in der Hand, bei den
Pförtnern nach Stellung.
Auch hier könnte sie an zwei oder drei Stellen
gleich da bleiben, aber sie will sich immer wieder
die Sache noch einmal überlegen, und so fragt sie
am Abend auch den Pförtner eines großen
Hauses in der Rue Francois, das die Nummer


Polnischer Zollwächter bei — der „Arbeit"!
Man hört ihn ordentlich schwitzen
drei trägt. Dieses Haus steht im Erdgeschoß an-
scheinend leer, im ersten Stock sind Büros und im
zweiten und dritten betreibt man ein Hotel
garni.
Zu derselben Zeit hat die deutschen Agenten
in Frankreich noch die Weisung erreicht, auf dem
schnellsten Wege in ein neutrales Land zu fliehen.
Der Hauptagent und drei seiner Leute entkamen
über die spanische Grenze, die andern wurden
sämtlich verhaftet, als sie den Zug bestiegen.
Ein Dutzend Männer, die den Tod nicht fürch-
teten, verschiedenartigster Nationalität, rückten
von Berlin aus auf den verschiedensten Wegen
an ihre Stelle in das Land des Feindes ein, um
das Werk der auseinandergesprengten oder ver-
hafteten Agenten fortzuführen.
Das Haus Rue Franyois 3 in Paris ist kein
gewöhnliches Haus. Sowohl die Büroräume wie
das Hotel garni sind erst seit kurzer Zeit hier
etabliert. Um es kurz zu sagen, in diesem alten
und etwas unheimlichen Kasten befindet sich jetzt
das Zivilbüro der Zentralstelle für die Spio-
nageabwehr in Frankreich. In den Büros sitzen
französische Offiziere in Zivil, das Hotel garni
ist geschaffen zur Beherbergung der Agenten, die
aus den verschiedenartigsten Gegenden und Län-
dern zu allen möglichen Stunden in Paris ein-
treffen. In den Büros brennt Tag und Nacht
Licht, in den Gastzimmern des Hotel garni sitzen
ständig Männer und Frauen, reden und hören zu,
gehen und kommen. Niemals hätte sich Made-
moiselle docteur in dieses Haus getraut, wenn
sie hätte befürchten müssen, daß ihr ehemaliger
Freund, der Unteroffizier aus der uniformierten
Spionageabwehrabteilung, die natürlich mit
diesem Eeheimbüro in der Rue Franqois Hand
in Hand arbeitete, noch auf seinem Posten ge-
wesen wäre. Aber sie wußte, daß er schon seit
geraumer Zeit als Souslieutnant zur Truppe ein-
gerückt war.

Der Concierge dieses Hauses hatte Annemarie,
die einen unerhört ehrbaren und phantastisch
dummen Eindruck machte, nach oben an die Ver-
walterin des Hotel garni gewiesen. Hier stellte
man sic für ein unendliches geringes Entgelt an,
sie erhielt dazu freie Kost und ein Logis in einem
Zimmer zusammen mit drei andern Mädchen,
und sie übernahm dafür die Verpflichtung, zu
scheuern und zu waschen. 14 Tage lang arbeitete
sie hier. Sic wusch die Treppen auf, sie fegte diese
unendlich schmutzigen Gastzimmer aus, reinigte
das Geschirr, und sic kannte nur eine Erholung
bei dieser schweren und ungewohnten Arbeit, eine
Erholung, die ungeheuer gefährlich war und die
noch einmal ihr Schicksal werden sollte.
An den Abenden dieser Tage, an denen sie die
Treppen herauf und hinunter gelaufen war, an
denen ihr der Abschaum des internationalen
Agentengesindels in die Waden gekniffen hatte,
an denen sie ihren Hunger mit schmaler und un-
sauberer Kost hatte stillen müssen, an den Aben-
den dieser Tage brachte die Morphiumspritze sie
in eine andere Umgebung. In dieser Zeit kam es,
daß diese Spritze mehr als einmal am Tage ihre
Funktion erfüllen mußte.
Nach zwei Wochen beginnt sie ihre Fäden zu
ziehen. In den Nächten, ab ein Uhr, wenn die
Offiziere gegangen sind, sitzen bis zu den frühen
Morgenstunden nur zwei Unteroffiziere in den
Büros der ersten Etage. Dann muß in den Zim-
mern in Anwesenheit der beiden Soldaten sauber
gemacht werden. Dieser Dienst geht unter den
Mädchen des Hauses reihum, und es ergab sich
bald aus dem Gespräch zwischen Annemarie Lesser
und ihren Kolleginnen, daß sie von den vier
Mädchen die ärmste war. Der Nachtdienst, das
nächtliche Reinigen, war diesen Mädchen, die am
Morgen um 7 Uhr, und manchmal schon früher,
wieder auf dem Posten sein mußten, eine Qual,
und so begrüßten es die drei Kolleginnen, daß
sich die vierte gegen ein geringes Entgelt bereit
fand, diesen Dienst ständig zu übernehmen. Das
Mädchen aus der Normandie freundete sich
schließlich mit einem der Unteroffiziere an. Sie
faß während seines Dienstes in der Nacht oft
an seiner Seite und, wenn es in den Büros ganz
still war, erzählte dieser Mann von seinem kleinen
Hof, der in dem von den Deutschen besetzten
französischen Gebiet lag, von seiner Frau und
feiner Tochter, von denen er nur selten und in
regellosen Abständen hörte.
An dem Sonntag, mit dem die vierte Woche
der Anwesenheit der Mademoiselle docteur in dem
Haus in der Rue Francois begann, an diesem
Sonntag hatte dieser Unteroffizier allein Dienst.
Der Sonntag war der einzige Tag, an dem von
den beiden Soldaten nur einer in der Nacht an-
wesend zu sein brauchte.
In dieser Nacht sah der Unteroffizier das Mäd-
chen aus der Normandie erstaunt an. Wo hatte
er nur seine Augen gelassen? Dieses Mädchen
war doch eigentlich sehr hübsch! Die teilnahms-
losen und trüben Augen glänzten förmlich vor
Munterkeit, sie neckte ibn, und auf einmal trat
sie, während er an einem Tisch saß, hinter ihn
und hielt ihm im Spiel die Augen zu. Lachend
faßte der Unteroffizier nach ihren Gelenken.
Plötzlich fiel ein Tuch über seine Augen, er fühlte
etwas Feuchtes, widerlich Süßes, vor seiner Nase
und vor seinem Mund, das Blut brauste in
seinem Schädel, und er wußte nicht mehr, was um
ihn geschah. In dieser Nacht verließ ein Mädchen
in blauem Mantel das Haus Rue Franqois 3,
das viel jünger und hübscher war als das Dienst-
mädchen aus der Normandie.
Am Morgen spielte der Telegraph aus dem
Haus in der Rue Franqois an alle Grenz-
stationen und an alle die militärischen Grenz-
stellen, denen die Bewachung der Züge Pflicht
war. Der Telegraph tickte während des ganzen
Tages, denn es war Schreckliches geschehen. Ein
Unteroffizier in dem zivilen Büro der Spionage-
abwehrstelle war betäubt worden. Alle Akten,
Listen und Papiere über die französischen Agenten
nicht nur in Deutschland, sondern auch in den
neutralen Ländern, waren geraubt, und die Täte-
tFortsetzung auf Seite 8)
 
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