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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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Der Moses des Michelangelo
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0023

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Der Moses des Midielangelo

15

Der Moses des Michelangelo1.
Von ***
Idi schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie.
Ich habe oft bemerkt, das mich der Inhalt eines Kunstwerkes
stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften,
auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Für viele
Mittel und manche Wirkungen der Kunst fehlt mir eigentlich das
richtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um mir eine nachsichtige
Beurteilung meines Versuches zu sichern.
Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus,
insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien.
Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten
lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise er-
fassen, d. h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das
nicht kann, z. B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig. Eine ratio^
nalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir
dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warum
ich es bin, und was mich ergreift.
Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe Tatsache aufmerk-
sam geworden, daß gerade einige der großartigsten und überwältL
gendsten Kunstschöpfungen unserem Verständnis dunkel geblieben
sind. Man bewundert sie, man fühlt sich von ihnen bezwungen,
aber man weiß nicht zu sagen, was sie vorstellen. Ich bin nicht be-
lesen genug um zu wissen, ob dies schon bemerkt worden ist, oder
ob nicht ein Ästhetiker gefunden hat, solche Ratlosigkeit unseres
begreifenden Verstandes sei sogar eine notwendige Bedingung für
die höchsten Wirkungen, die ein Kunstwerk hervorrufen soll. Ich
könnte mich nur schwer entschließen, an diese Bedingung zu
glauben.
Nicht etwa daß die Kunstkenner oder Enthusiasten keine
Worte fänden, wenn sie uns ein solches Kunstwerk anpreisen.
Sie haben deren genug, sollte ich meinen. Aber vor einer
solchen Meisterschöpfung des Künstlers sagt in der Regel jeder
etwas anderes und keiner das, was dem schlichten Bewunderer das
Rätsel löst. Was uns so mächtig packt, kann nach meiner Auf-
fassung doch nur die Absicht des Künstlers sein, insoferne es ihm
gelungen ist, sie in dem Werke auszudrücken und von uns erfassen
zu lassen. Ich weiß, daß es sich um kein bloß verständnismäßiges
Erfassen handeln kann,- es soll die Affektlage, die psychische Kon-
stellation, welche beim Künstler die Triebkraft zur Schöpfung abgab,
bei uns wieder hervorgerufen werden. Aber warum soll die Absicht
1 Die Redaktion hat diesem, strenge genommen nicht programmgerechten, Bei-
trage die Aufnahme nicht versagt, weil der ihr bekannte Verfasser analytischen
Kreisen nahe steht, und weil seine Denkweise immerhin eine gewisse Ähnlichkeit
mit der Methodik der Psychoanalyse zeigt.
 
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