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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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III.4
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Brill, Abraham A.: Die Psychopathologie der neuen Tänze
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0415

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Die Psychopathologie der neuen Tänze

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primitiven Völkern, den höheren Tieren und Vögeln. Kurz gesagt,
die allgemeine Auffassung geht dahin, daß der Zwedc des Tanzes
ist, einen Tumeszenzzustand herbeizuführen. Daß die neuen Tänze
dasselbe Ziel haben, braucht kaum erwähnt zu werden, denn es ist
wohlbekannt, daß die Haupteinwendungen gegen sie aus diesem
Grunde gemacht werden. Die Gegner nennen sie indezent, ver-
führerisch und sexuell erregend. Aber man darf nicht vergessen, daß
auch der alte Walzer, als er zuerst aufkam, nicht weniger Gegner
gefunden hatte. Er fand auch Widerstand, weil man ihn für unan-
ständig hielt und kein geringerer als Byron gab seinem Unwillen
in folgenden Versen Ausdruck:
Walzer, Walzer, wo Füße und Arme von Nöten,
Hoch schwingt sie das Bein, und ohne zu erröten
Läßt sie im Angesicht der Menge den Händen freies Spiel,
Zu tasten, wo sie nimmer es gewagt — Licht aus, es ist zu viel.
Die Einwendungen gegen die alten Tänze, oder gegen das
Tanzen im allgemeinen, sind nie ganz verschwunden. Viele Religions-
gemeinschaften haben immer gegen jede Form des Tanzes geeifert.
Wenn man in Betracht zieht, was Ellis und die anderen sagen, so
sind ihre Einwendungen verständlich.
Und doch, wenn man den Walzer mit den neuen Tänzen
vergleicht, so muß man zugeben, daß ein großer Unterschied zwischen
ihnen besteht. Im Aussehen und in der Ausführung hat der »Tur*
key Trott« etwas »Wildes« und »Aufregendes«, während der
Walzer als schicklich und konventionell erscheint. Ich habe viele
Tänzer, intelligente Leute, nach dem Unterschied zwischen den alten
und neuen Tänzen gefragt, und ihre Antworten gaben im großen
ganzen wieder, was ich weiter oben gesagt habe. Sie alle hielten
die neuen Tänze mit der dazu gehörigen Musik für wild, anreizend
und aufregend, und das war der einzige Grund, weshalb sie sie dem
Walzer vorzogen. Solche Ausführungen scheinen sehr seltsam, Leben
wir doch in einer sehr weit vorgeschrittenen Zeit und da geben
gebildete und intelligente Menschen offen zu, daß sie »ganz ver-
rückt« sind nach etwas, nur weil es primitiv ist, Ist das nicht ein
Zeichen von Rückschritt?
In der Absicht, mir darüber Klarheit zu verschaffen, besuchte
ich einige Tanzlokale. Ich muß sagen, daß ich bald ein sehr inter-
essierter Zuschauer wurde und ich überzeugte mich sehr bald, daß
meine Freunde und Patienten recht hatten, wenn sie die Tänze als
wild und aufregend bezeichneten, Aber ich sah noch etwas, das sie
nicht ausgedrüdct hatten, daß nämlich mit den neuen Tänzen mehr
Muskelanstrengung, mehr Berührung und mehr Bewegung verbunden
war. Mit anderen Worten, die neuen Tänze boten mehr Gelegen-
heit zur Tumeszenz als die alten. Da stellte ich mir die Frage: ist das
vielleiht die Ursache für die Beliebtheit der neuen Tänze? Und dem
Satze folgend: »alles was existiert muß einen Grund haben zu

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