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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 13.1902

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Carstanjen, ...: Muß das Schöne gefallen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.6713#0305
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INNENDEKORATION

AOM'HEfM-

ttEIN-STOLZ

XIII. MHRGflllG.

Dcirmffcidf 1902.

DezemB£R=HeFT.

Ulufy das Schöne gefallen?

So lange die Geschichte der Kunst als eine der
liebenswürdigsten Disziplinen besteht, kennen
wir eine Gruppe von Forschern, welche in
heissem Bestreben, voll grosser Begeisterung für
das Schöne sich bemüht, uns in möglichster Voll-
ständigkeit die Entwickelung der Kunst darzulegen.
Tastend spüren sie den Uranfängen in grauen Vor-
zeiten nach, mit liebender Sorgfalt tragen sie
Daten und Merkmale zusammen, gruppieren und
beschreiben die uns überkommenen Werke der
Kunst, setzen sie in Beziehung zu den schaffenden
Künstlern und ihren Zeiten und legen mit sonder-
licher Feinheit die verbindenden Fäden der ver-
schiedenen Gruppen blos. Sie stellen die auf-
steigende Linie der Vervollkommnungen und immer
vollendeteren Lösungen fest bis zu dem Punkte,
wo der Verfall eintritt, wo die Bethätigung des
Genies auf dem einen Gebiete abbricht, um sich
einem andern zuzuwenden, und reihen so Werk an
Werk vor unseren schönheittrunkenen Blicken zu
der grossen Kette idealer menschlicher Leistungen.

In Büchern und Bildwerken vereinigen sie die
Schätze ihrer Forschung und bieten uns so in Er-
gänzung der reichlichen Sammlungen unserer Museen
und Galerieen die unschätzbar wertvolle Möglichkeit,
die ganze Kette des Schönen nicht nur zu über-
sehen, sondern uns auch geistig anzueignen. Das

1902. XII. i.

gleissende Gold des Schönen aller Zeiten liegt vor uns
ausgebreitet zu unseren Füssen — nur zuzugreifen
brauchen wir, um es in Händen zu halten, um es
strahlend in blendendem Glanz emporzuheben als
unser Eigentum, unseren Besitz. Welcher Rausch,
welcher Reichtum!

Jedoch — birgt dieser Rausch nicht heimliche
Gefahren, indem er uns irre Wege führt? Verdirbt
dieser überwältigende Reichtum nicht Karakter und
Sinn, wenn wir alles um uns her mit dem Golde
der Geschichte bekleiden? — Man sagt mir: Nein]
Geschichte ist Macht, durch sie gewinnen wir erst
die Möglichkeit eines Vergleiches, die Befähigung
zur Beurteilung und Kritik von Werken der Kunst,
durch sie erst bildet sich unser Geschmack.

Ja, das ist richtig, wenn heute aus der bergenden
Umarmung der Erde oder des Meeres irgendwo ein
Kunst-Werk vergangener Zeiten zu Tage käme, wir
wären mit Hülfe der uns von den Geschicht-Forschern
gegebenen historischen Reihe in der Lage es einzu-
gliedern, ihm seinen Platz anzuweisen und seinen Wert
in Beziehung zu den bereits vorhandenen Lösungen
desselben künstlerischen Problems festzustellen.
Unser Urteil wäre ein festes, wohl begründetes. Für
den Maßstab sind wir den Historikern Dank schuldig.

Wie aber steht es mit der Sicherheit unseres
Urteils einem Werk der jüngsten Schaffens-Periode
 
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