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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 21.1910

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Utitz, Emil: Individuelle Wohnungs-Gestaltung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11378#0120

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102

[NN EN-DEKORATION

INDIVIDUELLE WOHNUNGS-GESTALTUNG.

(Fortsetzung der Ausführungen im Januarheft.)

Die erste Periode ist charakterisiert durch eine geradezu
unbändige Freude an der Linie. Sie erzwingt die
ganze Formgestaltung, sie lebt sich in allen nur möglichen
Arten aus, und, was weit schlimmer ist, die bizarrsten und
ihr fremdesten Schwingungen werden ihr aufgepreßt. Ein
Spiel von Krümmungen und Windungen, vor lauter Rhyth-
mus oft ein — unrhythmisches Chaos. Das war natürlich
für die schaffenden Künstler ein überreiches Feld für
»Erfindungen«-, aber das arme Publikum! Das wurde
durch das beunruhigende Liniengewirr nur nervös. Über
diese Kindheitsperiode sind wir nun hinaus! Aber
Kinder lernen am meisten; und in diesen wilden Jahren
war auch wirklich viel zu lernen: vorher — in der
ganzen eklektischen Zeit historischer Stilnachäffung —
nahm man alle Formen als etwas Gegebenes, gleich-
sam konventionell Erstarrtes. Dieser Bann ward ge-
brochen, alles gewann Leben, alles sollte durchfühlt
werden. Jeder Stuhl, jede Aschenschale wurde zu einem
Problem. In diesem Nachfühlen, Durchfühlen und
Neufühlen ging man nun zu weit; das »gefühlvolle«
Kunstgewerbe bot zwar charakteristische Proben einer
nervösen, irrenden und doch wieder zu sich selbst zu-
rückkehrenden Zeit, aber es war nur — Ausstellungs-
ware. Zu ständigen Alltagsbegleitern taugten diese
Augenblicksdinger nicht, geistreiche Einfälle drängender
Ausdrucksfülle. Und Einfälle gleichen ja nur dem
zischenden Leuchten steigender und schnell verlöschen-

der Raketen, keineswegs aber der ständigen, wohligen
Wärme des heimischen Herdfeuers; wertvoll werden sie
erst durch gewissenhafte, kritische und ruhige Verar-
beitung. Und sie trat ein und zeitigte die zweite Phase
des neuen Kunstgewerbes, deren erste Sommerfrüchte
wir nun ernten.

Die Architektur, die strengste und gebundenste
Kunstart, übernahm die Führung. (Inwieweit sie wieder
von den großen, technischen Errungenschaften — den
kühnen Eisenbauten z. B. — lernte, kann hier nicht
erörtert werden.) Sie, die in den praktischen Bedürf-
nisfragen ruhiger Sachdienlichkeit wurzelt und die hinauf-
ragt in die weiten Reiche des schönen Seins; von ihr
kamen alle Anregungen: Zweckausprägung in der Form;
Raumgefühl; Harmonie der Verhältnisse; Massenrhyth-
mus; Sinn für Materialeigentümlichkeiten usw. Und das
sind die Hauptmerkmale unseres neuen Kunstgewerbes,
von denen seine Vorzüge und seine Nachteile her-
rühren. Seine Nachteile, weil es zu — architektonisch
ist, zu starr, zu tot. Es fehlt ihm jede fantastische
Schmuckfreude, die ja mit praktischen Anforderungen
ganz verträglich ist. Aber die Hauptsache haben wir
doch gewonnen, zweifellos gewonnen: nämlich die Mög-
lichkeit, unser ganzes Sein mit lauter Dingen zu um-
geben, die geschmackvoll sind. Ihr gehaltener Ernst
paßt vielleicht ganz gut zu dem Stile unseres Lebens,
das über die Rokokospiele und Biedermeierlaunen
 
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