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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 30.1919

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Michel, Wilhelm: Skulpturale Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.10021#0446

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426

INNEN-DEKORATION

BILDHAUER CARL STOCK—FRANKFURT STUCKRELIEF FQR SUPRAPORTE

SKULPTURALE BAUKUNST

Im Umsturz der Formen und Begriffe errichtet auch
die Baukunst ihren neuen revolutionären Gedanken.
Gropius spricht vom Bauen mit der Inbrunst, die den
Geist der alten deutschen Dombauhütten beherrscht
haben mag. Po elzig tritt mit Projekten hervor, in denen
eine skulptural inspirierte Hand mit ungeheurem Ehrgeiz
den Baukörper geformt hat. Taut greift den Baubegriff
Europas mit seinen in Ägypten und Assyrien entwickelten
Vorstufen an und weist nach Indien, in dessen Bauten
das menschliche Gefühl, tropisch und welltrunken, auf
tausendstufiger Fabeltreppe zum Himmel hinansteigt.

Berührungen zwischen den dreien sind unverkennbar.
Am deutlichsten zwischen Tauts theoretischen Interjek-
tionen und Poelzigs Breslauer Stadthaus, in dessen Glie-
derung babelturmhafte Geisteseinstellung lebendig wird.
Mit Gropius treffen sich diese beiden im Grundtriebe
der Gesinnungserneuerung. Es geschieht letzte, grund-
sätzliche Empörung gegen die regulativen Begriffe, die,
aus der Sphäre des bildlosen Verstandes stammend, der
baulichen Verwilderung des 19. Jahrhunderts als Zügel
angelegt wurden: Zweck, Konstruktion, Material. Es
geschieht, zunächst im Wollen, der entschlossene Uber-
gang vom bisherigen Begriffe der Zweckbehausung zu
einer neuen Baugesinnung, die den Baukörper in erster
Linie als Träger eines plastischen Formgedankens auffaßt.
Das Ziel dieser neuen Baukunst wird es, den direkteren
Weg zu gehen zu dem, was alle Kunst will: das göttliche
Sein der Seele real zu symbolisieren. Denn: »Architektur
ist Plastik, ein Anlaß zur Raumbildung, wie es der Mensch,
das Tier in der Skulptur sind« (Eugen Steinhof, Auf-
zeichnungen über die Darstellung in den bildenden Kün-
sten, 1918).

Der Gedanke ist, soweit er Gedachtes ist, nicht neu.
Neu ist jedoch seine Zeitgeltung. Zu allen Epochen
pflegen so ziemlich alle ewigen Wahrheiten des Menschen-
geschlechts gesagt zu werden. Aber jede Epoche hat
doch immer nur eine einzige gültige Wahrheit. Gegen
sie, die wirkende Wahrheit des Thrones, kommen die
rebellischen Wahrheiten nicht auf, solange nicht eine
neue Stunde der Entwicklung angebrochen ist. Auch in
impressionistischer Zeit war das Gefühl für das skulp-
turale Wesen der Baukunst nicht verloren. Was Rodin
an den Profilen der gotischen Kathedralen fand und
nachschrieb, war Plastik, die er, der Bildhauer, deutlicher
als die Architekten seiner Zeit empfand. Dazu Steinhof:
»Alte plastische Phantasieen leben in unserer Architektur

heute noch versteinert fort in den sogenannten Profilen.
Die Künstler, welche diese mit der Zeit immer mehr ent-
seelten Dinge nimmer in ihrer ursprünglichen plastischen
Bedeutung verstehen, suchen dieselben aus materialtech-
nischen Gründen zu erklären (Semper), oder fassen sie
nur mehr als praktischen Nebenzweck auf.« Aber als
Rodin diese gotischen Profile nachzeichnete, herrschte
noch ungebrochen der Glaube an die Rechtfertigung der
Form aus dem Verstand; Nachklang dieses jammervollen
Jahrhunderts, in dem der Mensch aus Totem zu leben
suchte, der einzige Lebensdilettant zwischen Himmel und
Erde, soweit von allen guten Geistern verlassen, daß er,
unfähig zum Gang an die Quellen, diese Quellen aus der
Entfernung noch verleumdete. So herrschte in allen
Beziehungen des Menschen zur Welt das spezifisch Tote,
der Verstand, und verwaltete die Provinz der Baukunst
durch seinen Satrapen, den Zweckbegriff.

Wenn heute Taut, Gropius, Poelzig und andere eine
neue, geistig und skulptural gerichtete Bauge-
sinnung ausrufen, so haben sie die Zeit für sich. Darin
liegt der Wechsel. Ihre Wahrheit bedarf keiner Be-
stätigung. Sie ist mit der Anwartschaft auf den Thron
geboren. Sie hat den virtuellen Sieg. Sie ist die Aus-
wirkung des expressionistischen Gedankens in der Archi-
tektur. Dieselbe Spannung, die in der Malerei zwischen
Naturgrundlage und Ausdruck besteht, tritt nun in der
Baukunst zwischen Zweck und baulicher Form ein. Die
absolute Unmeßbarkeit von Naturtreue (Zwecktreue) und
Formleistung wird offenbar. Was noch an eklektizi-
stischerResignation in unserer Baukunst gelebt haben
mag, ist von dem neuen Gedanken gerichtet und ver-
dammt. Und wir wissen, daß es eine Menge Verzicht
gab in allem, was unsere Architektur und unser Kunst-
gewerbe betraf. Seit zehn Jahren schon wird das Er-
kühnen von Malerei und Dichtung von stürmischem Atem
geschwellt. Hart daneben eine unbewegte, unergriffene
Baukunst, heteronom bis zur Sklaverei, ihre höchsten
Wertungen findend in jenem »gut und anständig«, das
so beherrschend alle Erörterungen durchklang. Heute
ruft die Zeit: Es gibt keinen anständigen Verzicht vor
der höchsten Forderung. Verzicht an sich ist unanstän-
dig. Auf zur letzten Gestaltung! Auf zum Unmöglichen:
zur skulpturalen Baukunst der äußersten anthropozent-
rischen Prägung, zum kosmisch durchwogten und vom
extremsten Ehrgeiz der Menschheit erfüllten Baugebilde,
zum gegliederten Emporklimmen ins Unerreichbare.
 
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