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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 32.1921

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Michel, Wilhelm: Betrachtung von Bauwerken: die Melodie in der Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.10457#0125

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XXX11. JAHRGANG.

DARMSTADT.

APRIL 1921.

BETRACHTUNG VON BAUWERKEN

die melodie in der architektur

Eine der ältesten griechischen Sagen erzählt
von dem Sänger Amphion, dem die Steine
folgten und sich rhythmisch ordneten, wenn
er sang. Den Steinen wurde sein Lied zum
Weckruf und Gesetz, sie prägten es raumver-
drängend aus, indem sie sich sinnvoll zum Bau-
werk fügten. Ja, ich glaube, daß dieser Amphion
der erste Baumeister des griechischen Landes
war, und daß die Griechen lange Jahrhunderte,
ehe man bei uns die Architektur mit einer »er-
starrten Musik« verglich, erkannt hatten, daß das
Wesentliche der Baukunst liedhafter Art ist.
Derselbe Gedanke liegt der Sage von Orpheus
zugrunde: Rhythmus ist das Innerste der Welt.
Noch Eichendorff stieg diese Erkenntnis ins
Wort: »Schläft ein Lied in allen Dingen . . .«

Ein Bauwerk betrachten, heißt dieses Lied
wieder aus den Steinmassen heraushören. Die-
selbe Einstellung ist dazu erforderlich wie beim
reinen Hören von Musik: vollkommene Konzen-
tration auf das Sinnliche und feinste Achtung
auf das zeitliche Nacheinander, das sich geheim-
nisvoll durch dieses bloße räumliche Nebenein-
ander schlingt. Der Verstand sagt uns zwar, daß
beim Bauwerk alle Teile zu gleicher Zeit ge-

geben sind, daß sie im Raum nebeneinander
wohnen und daß es in ihnen nichts Zeitliches
geben kann, keinen Ablauf, kein Vorhergehen
und kein Folgen. Für die innere Empfindung ist
diese Wahrheit fruchtlos und lügenhaft. Was
vom Sockel aus aufsteigt, ist psychologisch später
als er da. Das Ausbreiten nach den Seiten ist
später als das Emporstürmen der Vertikalgliede-
rung. Was vom Kranzgesims als Schmuck nieder-
träufelt oder was als Bedachung abschließt, wird
als Antwort, als Gegenbewegung empfunden.

Woran liegt es, daß eine bauliche Schilderung
nie anders gegeben werden kann als in Begriffen
und Bildern, die aus den Bezirken der Zeit
stammen? Es liegt daran, daß das hineinge-
sungene amphionische Lied etwas Zeitliches
ist. Ja, man kann sagen, nur dann ist ein Bau-
werk in Wahrheit vom Betrachter ergriffen,
wenn dieses räumlich Starre vor seinen Augen
in zeitliches Fluten schmilzt, voll von Hall
und Widerhall -— und erst zum Schlüsse ge-
krönt von den Gefühlen des Festen, des starren
Wuchtens und Ragens; ein Auflösen in Musik
und ein neues Verfestigen zu Jahrhunderte über-
dauerndem Verharren.......wilhelm michel.

1821. it. i.
 
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