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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 32.1921

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Niebelschütz, Ernst von: Der Kampf um die Seele der Gotik, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.10457#0137

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INNEN-DEKORATION

117

DER KAMPF UM DIE SEELE DER GOTIK

n.

Wozu dient das komplizierte Aufgebot von unge-
zählten Pfeilern, Rippen und Bögen in der gotischen
Kathedrale? Der Verstand sagt: zur Lösung einer
schwierigen technischen Aufgabe — den Gewölbeschub
unwirksam zu machen. Für ihn charakterisieren sich die
Pfeiler als Kanäle eines von oben nach unten wirkenden
Energiestroms. Das Gefühl urteilt ganz anders. Es sieht
in dem Bauglied nicht die wirkliche Funktionsbedeutung.
Ihm ist es der Träger einer geheimnisvoll in die Höhe
schießenden unterirdischen Triebkraft, ein Symbol der aus
den Fesseln der Welt nach Gott verlangenden, erlösungs-
bedürftigen S eele. Der Ausgangspunkt der scheinbaren
— aber den Gefühlseindruck bestimmenden — Bewegung
ist also dem der faktischen polar entgegengesetzt, ja
dieser letztere ist überhaupt nur auf dem Umweg über
den Verstand erkennbar. So ungeheuer der Druck, so
vielgliedrig das System, ihn aufzunehmen — dem Auge
wird das alles vorenthalten. Es ist, als ob ein Höchst-
maß von Logik durch ein Höchstmaß von Mystik
paralysiert werden sollte; als ob dieses ganze konstruk-
tive Gerüst, dessen Glieder wie bei einer gut gebauten
Maschine reibungslos ineinandergreifen, nur erdacht sei,

19J1. IV. 8.

die Gesetze der Erfahrungswelt außer Kraft zu setzen.
Und auch beim Außenbau — bei den Strebenpfeilern
— gilt es zwischen dem tektonischen und dem ästhe-
tischen Sinn zu unterscheiden. Auch hier wird — durch
Spitztürmchen, Baldachine, Krabben — dem Auge eine
Höhenbewegung vorgetäuscht. Während alle klassisch
orientierteBaukunst den vollkommenen Ausgleich zwischen
tragenden und getragenen Teilen zu veranschaulichen
strebt, hebt die gotische den Eindruck des Widerspiels
auf, indem sie aus dem empirisch tragenden Glied trans-
zendente Kräfte entwickelt, die es als das Gegenteil
dessen erscheinen lassen, was es in Wirklichkeit ist. Und
das alles im Rahmen eines konstruktiven Problems ersten
Ranges! Franziskanische Gefühlsseligkeit und unerbitt-
liche Verstandesschärfe, Poesie und Technik, Phanta-
stisches und Reales, Himmlisches und Irdisches durch-
dringen sich hier zu vollkommener Einheit. Niemand
vermöchte zu sagen, welchem der beiden Haupt-Ingre-
dienzien — Verstand oder Gefühl — der Primat zu-
käme. Das Charakteristische ist gerade, daß beide,
der technische Kopf und das Genie, in völlig
gleicher Stärke an diesem Ganzen beteiligt sind! , ,
 
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