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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 37.1926

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Lorck, Carl von: Grundzüge der Physiognomik der Kunst, [1]: ueber die Grundstrukturen des Kunstwerks
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https://doi.org/10.11588/diglit.10704#0408

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GRUNDZÜGE DER PHYSIOGNOMIK DER KUNST

ueber die grundstrukturen des kunstwerks

Es ist ein unerforschter, seltsamer Vorgang, daß alle
Menschen den Zeitgeist zugleich wiederholen und
zugleich schaffen. Der kleine Ausschnitt aus der Welt-
form eines Zeitalters, der durch die »Kunst-Physio-
gnomik« deutbar geworden ist, bestätigt immer wieder,
wie auf Jahrzehnte, ja auf einzelne Jahre genau die »Ein-
stellung des Zeitalters« von jedem einzelnen Künstler,
unbeschadet seiner persönlichen Färbung wiedergegeben
wird. Diese »persönliche Färbung« ist aber wiederum
imstande, das ganze Zeitalter mit umzugestalten......

Das Ziel der »physiognomischen« Deutung eines
Kunstwerkes ist die von dem jeweiligen Urheber des
Kunstwerks gestaltete Welt: aufgefaßt als ein Gleichnis
seines Wesens und der Weltgestaltung seiner
Epoche. . Die formale Struktur eines Kunstwerks ist
ein sichtbares Gleichnis derjenigen Struktur, welche die
Welt des Künstlers aufweist. . Da alles, was vom Künst-
ler dargestellt wird, ein Gleichnis der Welt des Urhebers
ist, so kann man folgern: wer verformte Gegenstände
darstellt, dessen Weltbild i s t verformt. Wer Schön-
heit darstellt, dessen Welt und Wesen ist schön......

Wo ein Kunstwerk »Vieles« enthält, da ist die Welt
des Künstlers eine umfassende. Der Künstler ist dem-
entsprechend ein Mensch, der universal, umfassend, kos-
mopolitisch eingestellt ist. . Andererseits ist ein Kunst-
werk, das »wenige« Gegenstände enthält, dahin zu deuten,
daß die Welt des Künstlers in wenigen Dingen beschlos-
sen ist. Die Einstellung seiner Zeitgenossen ist dement-
sprechend vorzüglich kleinen Ausschnitten gewidmet. . .

»Historien-Malerei« bedeutet ein romantisch-histori-
sierendes Weltbild, es liegt darin aber ferner eine sicht-
liche Selbstaufgabe und eine selbstverlorene Sachlichkeit,
die in jede Orts- und Zeitferne hinausstrebt. . Die Ver-
wendung »historischer Baustile« — und zwar in beliebiger

Auswahl — ist eine bezeichnende Analogie.........



Das Gegenständliche des Kunstwerkes spiegelt den
»Weltinhalt« gleichsam, das Formale aber die Art und
Weise der Zusammensetzung, die »Struktur«. Die gegen-
ständliche Darstellung steht mit der formalen Struktur in
engem Zusammenhang. Die überwiegend formalen Kunst-
gattungen, wie z.B. die Architektur und die Hand-
werks-Stücke bis zum einzelnen Ornament sind auf
Grund ihres formalen Aufbaues überaus aufschlußreich
für die Deutung des jeweiligen Weltbildes hinsichtlich
seiner Struktur. . Jeder Krug z. B. aus einer wahrhaft
bildenden Epoche zeigt in seiner Formgestalt eine Ana-
logie des jeweiligen gesamten Lebenssystems jener Zeit.



Wie Teil an Teil sich im Kunstwerk schließt, so in der
Welt des Urhebers. Die »Formteile« als Individuen des
Kunstwerkes ermöglichen hiernach eine überraschend auf-
schlußreiche Folgerung auf die »Haltung der Menschen«
zueinander. Wenn z. B. die griechischen Säulen gegen
das Gebälk anlaufen oder in dem Renaissance-Bogen die
Steinfugen gegen die Außen- und Innenkante stoßen oder
im Dom von Siena die Steine in starkem Kontrast schwarz
und weiß gegeneinander abgesetzt sind, so ist daraus zu
folgern, daß der Urheber ein Weltbild gestaltete, in dem
die Beziehung der Individuen »im Gegensatz« besteht. .

Die »gerade Linie« ist, wie es schon Euklid zutref-
fend definiert hat, eine Linie, welche gleichmäßig durch
ihre Punkte fällt. Dieses Gleichmaß ist Klarheit und
Kürze, Unmittelbarkeit und Schärfe. Eine gerade Linie
stellt, — verglichen z. B. mit »Kurven«, — etwas über-
aus Einfaches und Rationales dar. Die Verstandesmäßig-
keit ist vorwiegend klar, knapp, direkt und einfach. Ein
Kunstwerk, welches vorwiegend gerade Linien zeigt, wird
darum Abbild einer Weltformung sein, welche u. a. auch
die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit betont. Es
darf geradezu ausgesprochen werden, das sich Utilitaris-
mus und Rationalismus darin ausdrückt. . Die Analogie
zu dem Kubismus ist der moderne Intellektualismus. Die
in einzelnen Jahrzehnten erstaunliche Geradlinigkeit der
Gotik findet eine Analogie in der schematisch starren
Denkform der Scholastik. . Die Unmittelbarkeit ferner
einer geraden Linie ist als ein Gleichnis von starker
»Triebhaftigkeit« anzusehen. Der Trieb strebt un-
mittelbar und hemmungslos auf ein Ziel zu. Alle trieb-
haften Epochen, insbesondere die Zeit der Aufklärung

mit ihrem Klassizismus, zeigen die gerade Linie......

*

Die »Schlangen-Linie« der Romantik und des
Barock ist eine Form, die eine überaus bedeutsame An-
gleichung in sich selbst enthält. Es ist der eine Teil die
Umdrehung des anderen Teils, er ist ihm entgegengesetzt,
ist ihm aber sanft angeglichen . . Die Deutung kann in
dieser Urgestalt eine In-Sich-Selbst-Ausgeglichenheit
sehen, welche ihre Analogie in dem großen Lebensgesetz
der »Coincidentia oppositorum« findet. Sie spricht die
Wendung von der Weltgestaltung der Renaissance zu
der Einstellung des Barock aus: »der Haß gegen das
Entgegengesetzte ist Liebe zum Übereinstimmenden«. . .



Die »Bogen-Linie« der Renaissance, welche als
Teil des Kreisbogens auftritt, läßt auf eine Einstellung
schließen, welche das geschlossenste einfach klare Form-
gebilde, den Kreis, die »radiale Beziehung« aller ein-
zelnen Punkte auf einen beherrschenden Mittelpunkt
ausdrückt. Analogie: die »Kalokagathia«, der Wohlklang
einer allseitig vollendeten Persönlichkeit: die universale
Entfaltung der Person, welche Castiglione lehrt, und wel-
cher Pico della Mirandola in seiner universalen Mensch-
heitsharmonie Ausdruck gibt. . Der Zentral-Kuppelbau,
wie ihn Michelangelo für die Peterskirche entwarf, ist
der gleiche Ausdruck einer Einstellung, die in unerhörter
Regelmäßigkeit die Welt nach der Vollkommenheit der
Kugel rings um einen Mittelpunkt gestaltet. Immer geht
diese Gestaltung von einem Einzelpunkt aus: nämlich
dem Menschen, welcher das »Maß aller Dinge« ist. . .



Die »unbestimmbare Linie« ist zu deuten: als
Gleichnis von Individuen, welche rational nicht zu er-
fassen und im eigentlichen Sinne des Wortes unberechen-
bar und unerschöpflich sind. Das Erfinderische tritt hier
fast in der Produktivität auf, welche ein rationalistisches
Zeitalter mit dem Worte »Zufall« bezeichnet. Nur der
Rationalismus konnte den Begriff des Zufalls verwenden,
unter dem er alles zusammenfaßt, was außerhalb der
geraden Linie liegt, (schluss folgt.) dr. carl von lorck. iaus

»grundstrukturen des kunstwerks*, akad. verlagsges. athenaion-potsdam.)
 
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