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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 38.1927

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Brief an einen modernen Raumkünstler: vom Streben nach den Bedingungen gesunden Lebens
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Geršenzon, Michail Osipovič: Die neue Lebendigkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.10702#0044

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BRIEF AN EINEN MODERNEN RAUMKÜNSTLER

vom streben nach den bedingungen gesunden lebens

Seit Jahren begegne ich in den Kunstzeitschriften, neuer-
dings auch in dem Werk über »Farbige Wohnräume«
skizzierten oder ausgeführten Raumgedanken, in denen ich
etwas »Neues« finde, das mich in besonderer Weise
»angeht«, vielleicht sogar erregt. Sie sehen aus dem
Briefkopf, daß ich Arzt bin. Möglich, daß Ihnen das An-
laß gibt zu dem Staunen, was denn aus einer so ent-
legenen Fakultät zu Ihnen, dem Künstler, sprechen wolle;
möglich aber auch, daß Sie, da Sie doch den Menschen
Räume für ein gesundes, ersprießliches Leben schaffen wol-
len, noch viel deutlicher als ich die neue »Beziehung«
spüren, die sich heute zwischen allen Fakultäten anzu-
bahnen beginnt und die gipfeln in der Erkenntnis, daß
Wissenschaft und Kunst gleichermaßen dem leben-
digen Menschen zu dienen haben. . Leib und Seele —
wer wagt sie noch in der alten Weise zu trennen? Um
den lebendigen, ungeteilten Menschen her begegnet sich
heute alles Wissen und Können. Der Arzt wird Seel-
sorger und »Künstler«, ehe er sich's versieht, und der
Künstler, besonders der Raumkünstler, wird um so sicherer
»Arzt«, je tiefer er auf seine Spezialprobleme eingeht,
d. h. je tiefer er erkennt, daß ein instinktives Wissen um
die Bedingungen gesunden Lebens doch immer der
eigentliche Ausgangspunkt seines ganzen Schaffens ist. .



Was heißt denn »Wohnraum?« Ein Raum, in dem
man nicht nur »wohnt«, sondern gesund und richtig
lebt; ein Raum, der unser tägliches Dasein nicht nur
behaust, sondern günstig beeinflußt und kundig führt.
Sehe ich mir nun diese neuen Räume und Raum-
gedanken an, so habe ich das Gefühl: der Künstler, der
sie erdachte, hat ein Wissen davon, wie günstig Freiheit,
Licht, Leichtigkeit auf den Menschen einwirken. Er
weiß um volle Atemzüge der Brust, um das Ausrecken
der Arme, um freies, ungehindertes Bewegen. Er weiß,
daß Leichtigkeit der Möbel den Menschen selber leicht
und kräftig macht. Er weiß, daß frei ausschwingende
Wandflächen ähnlich wirken wie der freie Horizont in
der Landschaft. Er weiß, daß schwere, massige Formen
den Menschen passiv machen, weil sie ihm seine physische
Ohnmacht zu fühlen geben. Er weiß, daß Helle in Ver-
bindung mit freudiger Farbe die Seele durchaus »positiv«
und tätig stimmt, während das Düstere und Undurch-
schaubare sie einlullt und sentimentalisch aufweicht. . . .



Immer wieder habe ich mich darauf ertappt, daß ich
mich in solche helle, neue Räume persönlich eingefühlt
habe; sie reizen dazu, sich vorzustellen, wie man morgens
aus diesem leichten Bett aufsteht, wie man an diesem
bequemen Schreibtisch, an dieser Eßtafel sitzt, wie sich
Gesellschaft auf Stühlen, Sofas, Kissen verteilt, und wie
man dann alles rasch zusammenräumt, um Boden für den
Tanz zu gewinnen. Wirklich: es ist etwas dramatisch
Einladendes in diesen Räumen; sie stehen in einer in-
nigen Beziehung zum sich bewegenden Menschen.

Aber der Hauptgrund, aus dem ich Ihnen schreibe,
ist ein anderer. Sie sind gewiß mit den Grundanschau-
ungen der Psychoanalyse bekannt. Sie wissen, daß
dieselbe das Seelenleben des Menschen von uner-
wünschten Erscheinungen zu reinigen strebt, indem sie
ins Dunkel des Unbewußten vordringt und es bewußt

»durchsichtig« macht. Sie geht vor gegen die Ge-
fahren der »Verdrängung«, sie macht den Menschen ge-
sund, indem sie ihn hell macht. Da sehe ich nun in
diesen neuen Räumen einen Geist, der dem Geist der
Psychoanalyse verwandt ist. Die Räume sind erstens im
Ganzen hell, und zweitens zeigen sie in den Möbeln wenig
geschlossene, dunkle, verdeckte Behältnisse, sie scheinen
sich gegen die geschlossene, blinde Fläche geradezu zu
wehren. Kastenmöbel treten selten auf, dafür umso häu-
figer die durchsichtige Vitrine, bei der sogar die Rückwand
oft noch aus Glas besteht. Auch die Rück- und Seiten-
lehnen der Stühle, der Sessel und Sofas bestehen in der
Regel aus Gitterwerk, durch das man hindurchsehen kann.
Massige Formen, die derb und körperhaft wirken, sind
überhaupt vermieden; selbst die Möbelstützen sind schlank,
und die Metalldinge treten meist in der Form dünner
Gestänge auf. . Es sind also Räume, die möglichst
wenig Dunkel und »Verdrängung« enthalten; alles
liegt dem Blick »offen«, alles zeigt sich in einer leichten,
lächelnden »Entspannung«. Selbst die Polsterungen
machen davon keine Ausnahme; als Sitz- und Rücken-
kissen sind sie nur lose oder leicht angebunden hingelegt
oder hingelehnt, so daß der Blick in einer Sekunde den
Sachverhalt erfaßt, im eigentlichsten Sinne »durchschaut«.



Sehen Sie: darin erblicke ich die Beziehung dieser
Räume zu grundlegenden psychologischen Einsichten
der Gegenwart. Vermutlich haben diese Künstler nicht
entfernt an die Psychoanalyse gedacht, als sie diese
Räume erdachten. Aber man braucht sie nur mit dem
geschärften Auge moderner Physiognomik zu betrachten,
so bemerkt man sogleich die innere Beziehung. Der Be-
ziehungspunkt besteht in der gemeinsamen Tendenz nach
Helle, Leichtigkeit und Transparenz, die wir als Helfer
zur Gesundheit heute so hoch zu schätzen wissen, dr. w.



DIE NEUE LEBENDIGKEIT

Der Mensch kehrt heute zu der Empfindung des realen
Seins zurück, wie ein Genesender nach schwerem
Siechtum, — er träumt von einem Zustand völliger Frei-
heit und Unbelastetheit des Geistes, paradiesischer Sorg-
losigkeit. . Wie die in Läden feilgebotenen Sachen uns
durch ihr hübsches Aussehen und durch die Bequemlich-
keit verführen, so verführen uns Ideen und Kenntnisse,
und unser Geist wurde mit ihnen ebenso »überladen« wie
unsere Häuser mit Sachen. . Ich gäbe alle von mir aus
Büchern herausgelesenen Kenntnisse und Gedanken und
dazu auch noch die, mit welchen ich sie zu überbauen
wußte, für die Freude her, ein einziges ursprüngliches,
ganz schlichtes, unmittelbares und frisches Wissen per-
sönlich aus eigenster Erfahrung zu gewinnen.......



Der grundlegende Ausgangspunkt, zu dem alles zurück-
kehren muß, ist die Persönlichkeit. Die neue Aufgabe
besteht darin, daß das Persönliche wieder völlig per-
sönlich und dennoch als Allgemeines erlebt werde.
Es wird eine neue Empfänglichkeit und ein neues Denken
entstehen, die nicht bei jeder ihrer Erwerbungen sofort
»versteinen«, sondern ewig »plastisch« und in die Un-
endlichkeit hinein frei beweglich sind. m. gerschenson.
 
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