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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 38.1927

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Wichert, Fritz: Die Kunst geht nicht unter: sie lebt auf als "kompensierender" Wert!
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https://doi.org/10.11588/diglit.10702#0267

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INNEN-DEKORATION

ARQH1TEKT:
JOS. BERGER
M. ZIEGLER
WAND -ARM

DIE KUNST GEHT NICHT UNTER

SIE LEBT AUF ALS »KOMPENSIERENDER« WERT!

Wenn der große amerikanische Blumenzüchter Luther
Burbank* in seinen Erinnerungen ganz schlicht er-
klärt: die »schönen Dinge« habe der Mensch »nötig
wie Speis' und Trank«, so kann man sich nur wundern,
warum wir dies Wort heute fast als Offenbarung und nicht
als Gemeinplatz empfinden. Haben wir denn nicht selbst
bis vor kurzem die Pflege des Schönen als eine der
höchsten Lebensforderungen betrachtet? War es nicht
selbstverständlich, für Kunstwerke Opfer zu bringen? . .
Aber dann kam die Erkenntnis der großen Verwirrung,
des Formen-Durcheinanders. Man sah plötzlich, was das
19. Jahrhundert angerichtet hatte mit seiner Vergötter-
ung vergangener Werte und seinem Mangel an eigener
Schöpferkraft, mit seiner Sucht zur Vereinzelung, zur Auf-
bauschung und zum individualistischen Getue. Es kam die
Industrialisierung, Kommerzialisierung, die Mobilisierung
und — die Kunst ging in Fetzen. . Die Folge davon ist
Abkehr, Wille zum Gegenteil. Bei den Einen äußert sich
diese Verneinung einfach in Gleichgültigkeit: »Für Kunst
gibt man kein Geld mehr aus. Lieber für seidene Strümpfe,
für Kleider, Schuhe, Maskenbälle, allenfalls fürs Kino«.
Bei den anderen, die mit der Kunst leiden, die sich ihr
trotz allem schicksalhaft verbunden fühlen, bedeutet die
Ablehnung des Zustandes nur ein Suchen nach dem Heil-
mittel. Dazu gehören auch die Konstruktivisten, wenn sie
meinen, nur die Erfüllung der reinen Zweckforderung
könne zur Uberwindung der Stil-Barbarei führen. . Sie
haben in vielem Recht: Erfüllung des Notwendigen be-
wahrt wenigstens vor Verlogenheit, vor Gewolltheit, Mache
und modischem Getue. Aber sie haben Unrecht, wenn

sie erklären, nun gäbe es überhaupt nichts anderes mehr
als nur noch die Schönheit der Maschine, als den Bau
von Organisationen und den Rhythmus der Wirtschaft.
Radikalismus dieser Art entspringt nur der Kopflosigkeit,
die durch den Anblick der Verwirrung bei vielen ent-
standen ist. . Wo in der Welt ist Höheres zu finden, als
die prometheische Fähigkeit, Leben zu ersinnen und
Wesen zu schaffen, deren Beseelung ebenso unergründ-
lich wie nachhaltig ist! Sollen wir diese Fähigkeiten preis-
geben, nur weil einige Leute augenblicklich von einer
Panik ergriffen sind? Oder weil es den Anschein hat,
als sei wenigstens vorübergehend die Schöpferkraft des
Menschen erloschen? »Den viehischen Gedanken« — um
mit Albrecht Dürer zu reden — »nehmen wir nit an.«

*

Stil bildet sich, wenn wir ihn nicht »wollen«, sondern
wenn Erlebnisse mit letzter Reinheit ausgesprochen wer-
den können. So lehren wir, daß es darauf ankomme,
neues Sein zu schaffen: zu realisieren, — nicht zu
stilisieren. Wenn das Ergebnis mit Wahrheitsgewalt zum
Ausdruck gelangt, bildet sich das Form-Gesetz von selbst.



Vielleicht wird ein Teil der heutigen Menschheit in-
folge der eintretenden Mechanisierung in der Tat soweit
»veröden«, daß ihm der Umgang mit den Wesen aus der
Schöpferhand des Künstlers nichts mehr bedeutet. Der
andere Teil wird aber um so heftiger nach kom-
pensierenden Erscheinungen verlangen. Deshalb
glauben wir, daß auch die Kunst nicht untergeht.

PROFESSOR DR. FRITZ WICHERT (IN »DAS NEUE FRANKFURT.»).
 
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