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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 38.1927

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Utitz, Emil: Sinn für das Tatsächliche: es gilt heute: Format zu gewinnen
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https://doi.org/10.11588/diglit.10702#0497

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INNEN-DEKORATION 477

WEISSENHOF-SIEDLUNG-STUTTGART DACHGARTEN. HAUS VON LE CORBUS1ER

SINN FÜR DAS TATSACHLICHE

ES GILT HEUTE: FORMAT ZU GEWINNEN

Heute ist die Bewußtheit heller, wacher, straffer ge- Der Standort erscheint klar gegeben. . Was wir als

worden; sie sucht nach neuen Ahnen. . Das»Zurück tragbare »Wirklichkeit«, — als Vollwirklichkeit brau-

zur Klassik« tönt aus vieler Munde. Der Erfolg ist nicht chen, das läßt sich sehr einfach und naiv ausdrücken:

selten ein blutleerer Klassizismus, trockenes Epigonen- eben ein Sein, das selbst werterfüllt ist, — das Wun-

tum. . Der neue Humanismus, der empordämmert, die derbare in ihm, nicht die Leugnung des Wunders, und

neue Klassik, die heute wieder proklamiert wird, dürfen auch nicht das Wunder, das dieser unserer Welt fern liegt,

nicht zu einer reuevollen »Rückkehr« werden zu allein *

beseligenden Idealen. Die neue Klassik wird eine ganz Die einen sehen den ungeheueren Apparat der tech-
andere Formensprache schaffen müssen, gerade wenn nischen Zivilisation; und die mechanisierte Welt duldet
sie legitimer Erbe alter Klassik zu sein beansprucht. . für sie keine zweite. Die andern sehen auch eine Welt,

★ — aber hinter oder über sie verlegen sie die eigentliche
Weil aus all den schonen und großen Plänen so wenig Wertewelt, die in jener Wirklichkeit keinen Platz hat. .

wurde, schämt man sich ihrer. Man traut sich nicht recht, An der Gegenwart können wir nicht vorbei, in ihr
mit neuen hervorzutreten, in der Scheu, daß auch ihnen heißt es die volle Wirklichkeit zu verankern. Auch ihre
nur kurzer Atem beschieden wäre. Man hat außerdem Dämonisierung ist eine Umschminkung ihres Seins. Wir
Angst vor der Programmatik überhaupt. Man will arbeiten, müssen vielmehr dieser Wirklichkeit entgegentreten, ihrer
und man ist bescheidener, stiller, nüchterner geworden. ganzen Realität; und siehe da: diese entwertete Realität
Ein »Glück im Winkel« meldet sich an. Werden die ist werterfüllt. Sie ist nicht entgöttert, — aber auch
Ziele zu niedrig gewählt, oder wird Zielsetzung über- kein Mythos und keine Legende. . Der Sinn für das Tat-
haupt nicht gewagt, wird enge Biedermeierei das Ergeb- sächliche erwacht wieder, doch dieses Tatsächliche hat
nis. Sie kann die großen Lösungen nicht gebären. . . ein anderes Antlitz als das Faktum des naturwissen-

★ schaftlichen Lebensgefühls. Es ist seltsam geheimnisvoll
Es gilt, um unserer Wirklichkeit gerecht zu wer- in seiner unverrückbaren Leiblichkeit: rational und

den: das Kleinbürgerliche abzustreifen, »Format« zu irrational zugleich. Es »ist«, und diese unschein-
gewinnen. Auch da ist zu staunen, wie schwach der bare Banalität des »Seins«, des echten, in sich grün-
programmatische Widerhall erklingt. Leichtsinnige Toll- denden, ruhenden Seins, sie wird zum Zeichen der Zeit. .
kühnheit hat an Gewicht verloren. Man will nicht mehr *

versprechen und ankündigen, als später Wirklichkeit wird. Vergeistung des Leibes und Verleihung des Geistes,

Alles andere erscheint unsachlich, irgendwie jungenhaft, diese erst in erlesenem Kreise von wenigen erhobene For-

und — nachgeahmt von Männlichkeit — sogar unehrlich. derung dringt in die Breite. . EMIL UTITZ (der neue Realismus).

1927. XII. 5.
 
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