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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 39.1928

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Michel, Wilhelm: Der Blick ins Weite: Erlebnis des Endlichen und Unendlichen
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https://doi.org/10.11588/diglit.11738#0091

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68 INNEN-DEKORATION

professor eduard pfeiffer haus r. am bodensee. südseite

DER BLICK INS WEITE

erlebnis des endlichen und unendlichen

Kommt mit, ins Freie, Menschen; kommt mit auf die
Höhe, um desto mehr Ferne, Weite und Freiheit
zu gewinnen. Kommt mit aus der Bedingtheit eurer
täglichen Horizonte zur Schau in den unbedingten, end-
gültigen und nicht weiter hinauszurückenden Horizont —
und ihr werdet merken, daß da erst ein letztes, tiefstes
Verlangen in euch gestillt wird. . Welches Verlangen?
Man kann ihm mancherlei Namen geben. So ist es
z. B. gewiß, daß das Fernrücken der landschaftlichen
Einzelheiten der Seele eine reale Freiheit und Ausdehnungs-
möglichkeit gibt, die ihr als eine mächtige Steigerung
desLebensgefühls und des Selbstgefühls zugute kommt.
Aber ebenso gewiß ist es, daß es bei diesem Selbstgefühl
nicht bleibt. Wohl setzt der Blick ins Weite uns zunächst
in den Vollbesitz unsres Selbst; aber alsbald führt er uns
darnach in die Lage des reinen, genialen Schauens,
in der die Entgegensetzung zwischen dem Ich und der
Landschaft sich aufhebt. Das Selbst geht beim Blick ins
Weite auf eine glückhafte Weise verloren, weil die ge-
waltige Beziehung wieder hervortritt, in der es nicht
mehr Subjekt und Objekt, sondern nur noch eine einzige
umfassende Lebendigkeit gibt, deshalb wirkt der Blick
ins Weite wie ein Verjüngungsbad oder wie eine echte,
rauschlose Ekstase: unser Selbst verjüngt sich durch
das Untertauchen in jene Namenlosigkeit, aus der es ge-
kräftigt und voll herrlicher Nüchternheit wieder aufersteht.

Aber das letzte Wort ist erst dann gesagt, wenn der
Blick ins Weite erkannt ist als Eintritt in die entschei-
dende, symbolische Situation des Menschen. Es ist ja
das Unendliche, was auf ihn, das endliche Geschöpf,
hereinschwillt. . Wir hören sagen, daß es Menschen, ja
ganze Völker und Rassen gibt, die unter dem Zwang
des »Höhlengefühls« stehen. Sie wollen das Unend-
liche nicht. Sie wollen den Binnenraum, die gesicherte
Abgrenzung, die feste geschlossene Kuppel. Aus ihrem
Kreise ist sogar die absonderliche Anschauung gekom-
men, daß der Raum, der sich über uns dehnt, eine
real geschlossene Kugel aus lauter Erdstoff ist, in deren
Innerem das ganze Heer der Planeten und Fixsterne ge-
fangen ist: so dringend ist ihr Verlangen, sich in lauter
meßbaren, dem Menschen angepaßten Verhältnissen zu
wissen. Aber eben das Hereinragen der Unend-
lichkeit in unser umgrenztes Dasein macht den Kern-
punkt der menschlichen Situation aus. Dieses Herein-
ragen mag zu Zeiten drückend, störend, beängstigend sein:
Menschen sind wir erst dann, wenn wir gelernt haben,

es zu erkennen, zu bejahen und selbst zu lieben.....

*

Der Blick ins Weite ist einer jener Momente, in dem
wir die Versöhnung unsrer Endlichkeit mit dem Unend-
lichen feiern und merken, daß es insgeheim lauter Hei-
mat ist, die uns am tiefsten behaust. . . Wilhelm michel.
 
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