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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 39.1928

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Das Neue und die Neuheit: vom Kampf um die Schönheit des Zweckes
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Michel, Wilhelm: Es ist eine Demütigung
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https://doi.org/10.11588/diglit.11738#0395

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DAS NEUE UND DIE NEUHEIT

VOM KAMPF UM DIE SCHÖNHEIT DES ZWECKES

Aus einer Gedankenfolge über »Das Neue in
l Architektur u. Kunstgewerbe« die vor kurzem
Henry van de Velde in einem Vortrag und in
der »Frankf. Ztg.« vorbrachte, geben wir einige
Formulierungen wieder: »Als uns seinerzeit die
Erkenntnis kam, daß die Sinnlosigkeit in Baukunst
und Kunstgewerbe so überwuchert hatte, daß nur
ein entschlossener Bruch mit der Vergangenheit,
mit der Überlieferung sie retten konnte, da wollten
wir bewußt einen neuen Stil schaffen. Wir suchten
unser Heil fern von der Lüge, fern von dem Betrüge
der Formen. Unser Streben war von vorneherein
sittlich eingestellt, und da die sittlichen Begriffe,
einerlei ob im Verkehr der Menschen untereinander
oder in der Kunst, immer dieselben ewigen sind,
so mußten wir, als sich aus unseren Versuchen der
Grundgedanke des neuen Stiles an den Tag drängte,
eines Tages erkennen, daß unser Stil der vernunft-
gemäßen Auffassung der Dinge, den wir für einen
neuen hielten, eigentlich der älteste der Welt war.

*

Wenn wir etwas Neues gebracht haben, war
es nicht eigentlich neu im Sinne der Abwechs-
lung, sondern wir öffneten nur für einen alten,
ewigen Begriff die Augen und die Sinne. Das
Neue, das wir brachten, läßt sich nicht wieder
vertreiben, weil es eben nichts Neues war, son-
dern nur eine erneute Form des Ewigen. Alles,
was der Vernunft seine Entstehung verdankt, ist
ewig. Es aufersteht unter irgendeiner abgeänderten
Form, je nach den Bedingungen der Zeit und des
Raumes. Die Aufgaben, die die Baukunst und das
Kunstgewerbe an den menschlichen Geist stellen,

ändern sich im Grunde nur wenig..........



Dennoch wird das Neue immer gefährdet blei-
ben, solange die Welt »Neuheit« mit »Neuem«
verwechselt, solange vor allem der Wunsch nach
einer Neuheit besteht, die die Letzte ablösen soll.
Wer hat bisher die Fäden klar erkannt, die sich
über die Jahrhunderte fort vom Neuen zum Neuen
spinnen? Ist die »Unveränderlichkeit des Neuen«
je genügend unterstrichen worden? Ein solcher
Gedanke scheint nur widerspruchsvoll. Tatsächlich
wird sich nie etwas Neues erfinden lassen, das

nicht in der Ewigkeit wurzelte............

*

Alles, was in dem Reich der Form und Gestaltung
neu ist, stammt von einem Grundgedanken her: dem
Zwang eines ursprünglichen Bedürfnisses. Ihm ver-
danken wir die Urformen, die »Ideentypen« nennt
Semper sie. Dieser Grundgedanke knüpft das
dauernde Band zwischen allem, das aus derselben
Quelle entspringt.. Gleich im Anfang, in der Jugend
der Menschheit, wurde das Neue erzeugt. Der Stil

wurde in vorgeschichtlicher Zeit und zwar, in dem
Augenblick, in dem die Menschheit Erfindungen
für ihre Lebens-Erfordernisse brauchte, geboren. .
Das »kubistische« Haus aus Kreta war 2000
Jahre vor unserer Zeit schon die erste Erscheinung
des »Zweckhauses«, es ist so völlig zweckvoll, wie
unsere entschlossensten Architekten den Typus des
Hauses in der ganzen Welt jetzt verwirklichen,
denn in der Anwendung des Zweckbegriffes gibt
es immer nur Einstimmigkeit und Universalität. . .

*

Die Tatsache, daß unser 20. Jahrhundert einen
Stil bekam, dessen Art heute vollkommen klar fest-
steht, und dessen Grundsätze in der ganzen Welt
anerkannt werden, ist ein Wunder, das wir noch
nicht richtig einzuschätzen gelernt haben. . Die
große Revolution in der Kunst liegt darin, daß die
Gefühlsduselei mit kurzem Entschluß entfernt
worden ist. Die Architektur und das Kunstge-
werbe haben hieraus in ihrer Weise Vorteil ge-
zogen, sodaß wir uns jetzt vor einer wahren »Renais-
sance« befinden, der des 20. Jahrhunderts, des
Jahrhunderts der Technik und der Erfindungen. . .

Das Neue ist da, lebendig greifbar; aber als-
bald ist auch die Furcht da, daß die glanzvolle
Entwicklung des Neuen vernichtet werden könnte
durch die, die um jeden Preis »Neuheiten« schaf-
fen wollen, die immer Neuheiten fordern. . . Die
Kreter aus der Zeit des Minos, die Phönizier, die
zur Zeit der Zerstörung Trojas lebten, unter-
scheiden sich nicht von den modernen Fabrikanten,
die dazu verurteilt sind, jedes Jahr neue Modelle

auf die Messen zu bringen..............

*

Die ständige Veränderungs-Möglichkeit des
Ornaments hat bisher für die Bedürfnisse des
Waren-Wettbewerbes genügt. Aber das will nicht
besagen, daß es immer so bleiben muß, daß die
Menschheit nicht so besserungsfähig ist, daß sie
auf die Lust am Ornament verzichten kann. Die Ent-
wöhnung vom Ornament ist möglich. Wir rechnen
darauf, daß diese Tendenz andauert und daß die

Schönheit des Zweckes siegen wird......v. d.v.



ES IST EINE DEMÜTIGUNG für unsere Ver-
nunft, daß sie am Ende vieler Erfahrungen zu-
geben muß: mit dem Nachweis, daß eine neue
Sache irrig und offenbar töricht ist, sei noch nicht
das Geringste über ihre Lebenskraft, über ihre ge-
schichtliche Ergiebigkeit entschieden. Unsere stolze
Vernunft, die immer darauf ausgeht, Dauergewinne
zu machen und Erfahrungen in Wahrheiten zu be-
festigen, sie muß am Ende begreifen, daß das
Schellenkleid der Torheit die häufigste Verkleidung
der Kraft und Wahrheit von morgen ist. w. michel
 
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