Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 45.1934

DOI article:
Michel, Wilhelm: Lob der Gartenterasse
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.10796#0186
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
INNEN-DEKORATION

»CAFE W1RTH IN STUTTGART« OBERER RAUM. - DECKE: HELLROT, STÜHLE: SCHWARZ MIT ROTEM LEDER, FUSSBODEN: WEISS LINOLEUM

Stunden des jungen Jahres ? Ein ganz neues Erleben
der Welt fängt an, denn die Gnaden des Frühlings
sind nicht nur leiblicher, sondern auch geistiger und
seelischer Art, und die gute, freundliche Gartenter-
rasse ist es, die mit stillem Dienst zu ihnen verhilft.

Ihre zweite große Zeit hat die Gartenterrasse im
späten Jahr, zur Zeit der unwahrscheinlich hohen
Herbsthimmel mit ihrem geistigen Schimmern und
Leuchten. Ist letzte Sonne im Jahr nicht ebenso schön,
ja fast noch schöner als die erste? Goldbraune Lär-
chen mit ihrem wie Wassermassen triefenden Nadel-
gehänge, unter den Ahornbäumen ein wahrer Nibe-
lungenhort von roten und goldenen Blättern — die
Welt kommt in den warmen, durchbräunten Farben
so nahe und kernig heran, die Luft prickelt wie Cham-
pagner, die Sonne kann noch heiß sein wie im Som-
mer, aber in den Schatten sitzt schon der junge Win-
ter mit einem kalten Ernst, und was das Schönste
ist: die goldene, süße Herbstschwermut liegt wie ein

warmer Mantel um den Menschen und schenkt ihm
den wunderbaren, verklärten Leicht-Sinn, der die
Seele tagelang durchschimmern kann. Gewiß, das
Glück dieser späten Sonnenstunden ist so kurz und
so unsicher wie das der ersten Frühlingsstunden;
aber die Gartenterrasse hilft es unbeschwert und
fröhlich genießen. Den kürzesten Sonnenblick hilft
sie nutzen, den Rückzug vor den früh einfallenden
Abenden oder vor Launen der Witterung gewährt sie
mühelos. Müssen wir sie dafür nicht loben ? Die Gar-
tenterrasse ist ein Geschenk; sie ist ein liebreicher,
freundlicher Gedanke am Haus, sie bedeutet einen
Zuwachs von vielen erhaschten, genutzten Glück-
stunden im aufgehenden und im niedersteigenden
Jahr, und sie tut auch im Sommer ihren Dienst an
dem oft um die Ausspannungsstunde verlegenen
Menschen dieser Zeit, nicht zu vergessen die Kranken
und Genesenden, denen sie mit Sonne und Luft zu
einem Asyl der reinsten Freuden werden kann. w. M.
 
Annotationen