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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 45.1934

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Wieszner, Georg Gustav: Wohnform als Stilausdruck
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https://doi.org/10.11588/diglit.10796#0422

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406

INNEN-DEKORATION

sehende Anonym, das wahre Kollektiv, aus dem die
großen Stilepochen wachsen. Als »man« sich schlank
trug, wuchsen die Kathedralen, als »man« Krinolinen
anzog, stürzten die Voluten herab zu erdgebundenen
Fassaden, die sich raumdynamisch bauschten. Und
als »man«, d. h. der Geist, des Symbols der Volute und
der Kuppel und der Krinoline müde war, geschah
etwa um 1800 jene Revolution stilistischer Haltung,
aus der der moderne Mensch hervorging.

Dieser moderne Mensch untersteht sichtbar zwei
seelischen Tendenzen: der Tendenz zur Exaktheit und
der zur Bewegung in strengster Zielrichtung. Diese
Tendenzen schaffen sich zwei vorerst geistig noch
nicht ganz beherrschte Formen: die Maschine und
den Rekord. Beide wurden vor rund 100 Jahren in
Deutschland offensichtlich: »Das Maschinenwesen
vermehrt sich immer im Lande«, schreibt Goethe, als
er die Problematik der Weberdörfer etwa ums Jahr
1830 in seine »Wanderjahre« aufnimmt, und 1835
verläßt die erste Eisenbahn Nürnberg.

Die geistige Haltung war aber längst in Tracht und
Wohnung, sogar schon im Baustil vorgebildet. Keine
größere Revolutionärin als die Tochter, die erstmals
im Hemdkleid ä la grec der Mutter in Krinoline ent-
gegentritt, kein deutlicherer Ausdruck eines Gesin-
nungswandels als der hartkantige Sekretär, der neben
die geschweifte ererbte Kommode gestellt wird; und
auch dieses Erbstück muß bald dem schlicht-eckigen
Kasten weichen. Während der Architekt noch »ä la
grec« baut, für seinen neuen Bauwillen gewisser-

maßen die Ausrede braucht, er sei griechisch, um sich
gegen die barocke Tradition durchzusetzen, ist die
Wohnung der neuen Zeit erschlossen. Ja, neben die
harten Möbel stellt sich schon der weiche Ohrbacken-
stuhl, als sei der Mensch durch das intensivere Leben
müder geworden in seiner Freizeit. Der Stuhl des
Rokoko gehört zum Möblement, dieser Biedermeier-
lehnstuhl ist schon dem Körper angepaßt wie ein gut
sitzendes Kleid, ist Zeitproblem geworden.

Der moderne Menschentyp ist geschaffen. Die »Mo-
derne«, jenes treibende Abstraktum, hat ihn erfaßt in
allen Lebenstiefen: Der elegante, amüsante Voltaire
verschwindetaus den Bücherregalen zugunsten Kants,
und Geliert wird von Schiller verdrängt. Als Chodo-
wiecki den Tod Werthers illustriert, verlegt er die
Szene in ein strenges Bürgerzimmer des deutschen
Sturm und Drangs, in dem nur noch zwei verlassene
Spätbarocksessel stehen: der nervös-gehetzte Mensch
zwischen zwei Zeiten, der keinen anderen Ausweg
mehr findet als die letzte Konsequenz (Exaktheit!)
des Selbstmordes, hat sein Milieu.

Dann kommt, nach übermenschlichen Spannungen
der Umbruchszeit, die Sehnsucht nach Ruhe, es bleibt
aber in Wirklichkeit alles in taumelnder Bewegung,
indem man, Ruhe in der Historie suchend, jämmer-
lich in allen Stilen herumirrt. Keine Reaktion kann
die Seele der Zeit, nach der sie sich müde sehnt, re-
konstruieren, alles wird unecht, nervenkrank: und so
sitzen bald Damen in barocken Krinolinen auf pseudo-
gotischen Stühlen; die Krinoline schrumpft zum Cul
 
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