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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 46.1935

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Michel, Wilhelm: Deutsche Raumkunst im Wettbewerb der Völker
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https://doi.org/10.11588/diglit.10947#0395

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DEUTSCHE RAUMKUNST IM WETTBEWERB DER VÖLKER

Tiefreichende geistige Umstellungen innerhalb
eines Volkes wirken auf seine Wohnform weiter.
So geht auch die heutige deutsche Lebenserneuerung
einher mit dem Streben, sich in der Wohnform, in der
Bau- und Kunstform auszuwirken. Wir empfinden
es geradezu als Pflicht, in unsrer Heimgestaltung die
Spur des schöpferischen deutschen Augenblicks her-
vortreten zu lassen. Nicht als ob unsre bisherige
Raumgestaltung nichts wesenhaft Deutsches ent-
halten hätte; aber sie kehrte nur bestimmte Seiten des
deutschen Wesens hervor, etwa die revolutionäre
Kühnheit des Formdenkens, organisatorische Kraft,
technische Gediegenheit, Klarheit des Zweckbegriffs,
großartige Indienstnahme von Technik und Indu-
strie, strenge Herausarbeitung des Begriffs »Kultur«
als eines Zusammenhanges aller Einzelheiten der
Lebensgestaltung. Man kann kurz sagen: Was in
unsrer Raumkunst bisher hervortrat, war die Fähig-
keit des Deutschen, den bestimmten zivilisatorischen
Augenblick, genannt die »Zeit«, gestalterisch zu er-
fassen. Ein Welterfolg deutschen Schaffens wurde
auf diese Weise errungen, unverlöschbar sieht man
seine Spur der Heimgestaltung Englands, Amerikas,
selbst Frankreichs - um nur die größten Länder zu
nennen — aufgedrückt.

Heute geht es uns darum, im Heim eine Form
durchzusetzen, die in bestimmterem Sinne deutsche
Art, deutsches Lebensgefühl ausprägt. Nicht nur die
»Zeit«, das heißt die ausdrücklich moderne Zivilisa-
tion, soll sich in unsren Formen aussprechen, sondern
Volkscharakter, Gemütsart, Weltbild, Formüberliefe-
rungen, die uns eigen sind. Wir haben heute schon
einige Züge dieser werdenden deutschen Wohnform
vor Augen. Zu ihnen gehören die Freude an der hand-
werklichen Form (gegenüber einer früheren Vorliebe
für das technizistisch-maschinelle Verfahren), die
Freude am naturgewachsenen Werkstoff (gegenüber
einem zeitweiligen Vordringen künstlicher Materia-
lien) , die Freude an Beseelung, Wärme und »Mensch-
lichkeit« der Dinge (gegenüber der versachlichten
Form), die Freude am einfachen, gemütvollen, volks-
tümlichen Lebensstil (statt der Führung durch einen
volksfernen internationalen Lebensstil, der klassen-
haft geprägt war). Wir lieben die Lebensspur im
Holze, die Maserung, ebenso die Spur von Hand,
Hammer und Hobel am fertigen Ding. Der Wert der
Dauerhaftigkeit ist uns wieder wichtig geworden,
statt daß uns in der Welt von gestern oft der Gedanke
ansprach: Form der »Saison«, rasche Erneuerung des
Bedürfnisses. Das Haus soll nicht mehr ein unge-
fähres Etwas sein, das mit Hohlräumen und Steck-
kontakten eine Reihe von Einzeldiensten leistet, son-
dern es soll ein volles Menschenleben behausen und
soll dies auch in seinem Aufbau zu erkennen geben.
Es soll wissen um Bindung und Ansiedlung, um Tage

der Freude, um Nächte des Leidens; es soll sich als
»Haus« ernst nehmen und sich nicht selbst ironisieren,
wie wir das unter Mißbrauch von Glas und Metall so
oft geschehen sahen an Häusern, die nicht mehr
mit vollen Menschenleben, sondern nur mit flachen,
dünnen, blutlosen Augenblicken ihrer Bewohner zu
rechnen schienen. Ein neuer Durchbruch zum Men-
schen ist, wie in Deutschlands Erneuerung über-
haupt, so auch in unsrer Raumgestaltung gemeint,
und zwar angesetzt zunächst als ein Durchbruch zum
deutschen Menschen und der ihm gemäßen Form.

Es ist nun sehr wichtig, daß zugleich gemerkt
wird: Nicht ist dieser Durchbruch so gemeint, daß
er unsre Arbeit von Weltöffentlichkeit, Weltmarkt,
Weltgeltung ausschließen soll, sondern so, daß er uns
erst recht in den Wettbewerb der Völker hineinführt,
mit einem neuen Mut, mit dem kühnen Wissen,
daß wir der ganzen Welt etwas Neues, etwas Men-
schenwürdigeres zu bringen haben. Wie die deutsche
politische Erneuerung uns nicht in ein Abseits
drängen, sondern erst recht in den Kampf der Völker
einreihen will, so will auch die deutsche Form sich
als weltgültig und zeitgültig, als schrittmacherisch
für die große Abkehr vom Fehllauf der Zivilisation
erweisen. Nicht aus weltscheuer Träumerei ist diese
deutsche Form geboren, nicht aus Schwäche oder
Angst ist sie entstanden, sondern aus etwas, das wir
in voller Weltöffentlichkeit vorweisen können: aus
einem besseren Wissen um das wirkliche Menschen-
leben, aus einer klareren Einsicht in Gefahren und
aus einer größeren Kraft, diesen Gefahren tapfer zu
begegnen. Was Deutschland heute in seiner Heim-
gestaltung unternimmt, geht die ganze Kulturwelt
an, auch wenn sie es noch nicht voll begreift. Und es
ist damit nicht anders als es vorzeiten mit der Ro-
mantik, mit der idealistischen Philosophie, mit der
Gotik, mit der Reformation war: aus deutschen
Lebenszwängen gingen diese Denk- und Lebens-
formen hervor, aber sie wurden weltgültig, weil sie
zugleich ein geheimes Bedürfen in andern Völker-
seelen anrührten. Die Völkergeschicke scheinen an
der Oberfläche oft weit auseinandergestellt, aber in
der Tiefe bleiben sie verbunden, denn die Erde selbst,
die gemeinsame Mutter, hat ihre Augenblicke und
Entscheidungen. Die deutsche Not, aus der wir heute
in neuen Kampf gehen, ist nicht nur eine deutsche
Not. Das deutsche Formschaffen mit seinem neuen
Blick für Erde, Natur, Werkstoff, Grundform und
lebendiges Leben geht zugleich unsre ganze Umwelt
an, weil sie zugleich mit uns in den Fehllauf der
Kultur verstrickt war. Wir begeben uns mit ihm
nicht aus der gemeinsamen Arbeit der Völker heraus;
wir bringen ihnen, wenn wir unsre Aufgabe in voller
Tiefe erfassen, Lösungen und Weisungen, deren sie
genau so bedürfen wie wir selbst. Wilhelm michel

1935. xii. 1
 
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