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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 50.1939

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Michel, Wilhelm: Kultur als Lebensbedingung
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https://doi.org/10.11588/diglit.10971#0040

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28

INNEN-DEKO RATION

KULTUR ALS LEBENSBEDINGUNG

Menschliche Kultur ist uralt; denn zweifellos ist
es schon »Kultur«, wenn der homo sapiens
diluvialis sich Speer und Bogen schafft und Großwild
mit Knochenharpunen erlegt statt mit Steinwürfen.
Aber seit wann tritt der Mensch in ein bewußtes Ver-
hältnis zu seiner Kultur ? Seit wann hat er eine klare
Kenntnis seiner Angewiesenheit auf Kultur als
auf eine unerläßliche Bedingung seines Daseins?
Manchmal scheint uns diese Kenntnis schon bei Ho-
mer hochentwickelt, denn seine Menschen haben ein
klares Gefühl für Heimat und Vätererbe, für feste,
menschenwürdige Zustände, für ein schöngebautes
und mit Gütern wohlbeschicktes Haus. Aber manch-
mal wieder scheint uns dann die menschliche Un-
kenntnis des Wertes »Kultur« und seiner einzig-
artigen Wichtigkeit so nahe gerückt, daß wir er-
staunen. Im Herbst 1777 tut der sinnige Wands-
becker Bote, der Dichter Matthias Claudius, expreß
eine Reise nach Lübeck, um mit Gerstenberg, dem
Verfasser des blutrünstigen »Ugolino«, den großen
Plan zu besprechen, der sie beide schon seit Monaten
beschäftigt: Auswanderung nach Otaheiti! Sie sind
der Kultur müde, sie sehen sie überlastet mit For-
men und Umständlichkeiten, die das eigentliche

Menschenleben zudecken und fast ersticken. War die
»Mode« - so hieß damals das, was wir heute die ge-
sellschaftliche Zivilisation nennen - nicht barer,
törichter Baiast? Erzählten nicht die Erdumsegler
von wunderbaren Inseln der Südsee, wo ein Volk
schöner Naturmenschen ein beneidenswertes Dasein
lebte, frei von Krieg und Hunger und falscher
Moral ? Es waren so verlockende Vorstellungen, daß
Claudius und Gerstenberg eine ganze Reihe Genossen
ihres Otaheiti-Traumes fanden. Wilhelm Heinse, der
ja schon als Verfasser des »Ardinghello« von einem
neuen reineren Menschendasein auf den »glück-
seligen Inseln« geschwärmt hatte, schloß sich an,
Johann Heinrich Voß, Fr. Leopold Stolberg (um nur
die berühmteren zu nennen), endlich sogar der ge-
feierte Klopstock und - beinahe! - der alte Vater
Gleim, den Heinse für das wahnsinnige Projekt zu
erwärmen suchte. Sie hatten alle, wie gesagt, ge-
wisse Vorstellungen von ihren Beweggründen. Aber
was uns heute dabei am meisten auffällt, ist das
Fehlen jedes bestimmten Wissens um die Kultur
als das Grunderfordernis gerade derjenigen Lebens-
erfüllung, die sie als Dichter, als Künstler und
Geistesmenschen suchten. Sie ahnten in ihrem
 
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