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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 50.1939

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Michel, Wilhelm: Das Ausdrucksvollste Möbel
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https://doi.org/10.11588/diglit.10971#0192

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174

INN EN-DEKORATION

DAS AUSDRUCKSVOLLSTE MÖBEL, das die
Menschen erdacht haben, ist der Sessel. Er
hat am eigentlichsten und ausschließlichsten mit
dem Menschen zu tun. Er ist ein Spiegel seiner
ganzen Anatomie (selbst daß dieses Wesen einen
Kopf hat, wird vom Großvatersessel mit den ge-
polsterten Seitenwangen treulich berichtet). Aber
nicht nur die Anatomie des Menschen, sondern
auch seine inneren Haltungen spiegelt der Sessel
wieder. Denn es gibt keine äußere, leibliche Hal-
tung, die nicht aus einer inneren Haltung ent-
springt und umgekehrt auf diese hinwirkt (das ist
ja der wichtige Punkt bei allen Möbeln und Möbel-
fragen). Kein Wunder, daß die Sesselformen, histo-
risch gesehen, gewisse Wesenszüge ganzer Zeiten
und Kulturen, ganzer Rassen, Völker und Stände
lesbar aufbewahrt haben. - Nicht alle Sessel-
typen, die wir kennen, sind nach unsern Begrif-
fen behaglich. Es gibt viele darunter, die ihrem

Wesen nach das Behagliche ablehnen. Dazu gehört
z. B. der Thronsessel, der Prunksessel, der seine Be-
stimmung gerade darin erblickt, den Menschen zu
einer straffen, repräsentativen, also angestrengten
Art des Sitzens zu zwingen. In zahlreichen Sessel-
typen der Gotik, auch der Renaissance, sieht man
dies festgehalten; schon die steifen, senkrechten
Rückenwände zeigen es an. Aber auch profane Sessel
scheinen sich in älteren Zeiten wenig um das wirk-
liche Ruhebedürfnis des Menschen zu kümmern; sie
scheinen mehr an die Gestalt und an den Schmuck
des Gerätes selbst zu denken. Das hängt mit der Tat-
sache zusammen, daß menschliche Gestaltungen erst
lange Zeit auf das Objektive, auf das Allgemeine und
Überindividuelle gerichtet sind. Blickt man etwa von

»sessel« entw. architekt h.a. burgardt-düsseldorf
oben: mattorqn velours. mitte: naturgrauer hand-
webstoff. unten: nussbaum, hellblau-weisser bezug

einem Prunkstuhl Karls des Kühnen hinüber zu
einem gutgearbeiteten Polstersessel der Gegen-
wart - welch ein Unterschied in der Fragestel-
lung und in der Lösung! Kein Zweifel, daß im
ganzen das moderne Möbel das Entspannungs-
bedürfnis des Menschen viel bewußter bedient
als frühere Zeiten. Ein Grund dieser Verände-
rung liegt in der dringlicheren Angewiesenheit
des überbeanspruchten modernen Menschen auf
die großen heilsamen Kompensationen Ruhe
und Spiel. So sehr diese unter sich verschieden
scheinen, dienen sie doch dem gleichen Zweck:
sie schenken dem Menschen, den die verwirrende
Vielheit der Beanspruchungen zu zerreißen
droht, die innere Einheit, die Übereinstimmung
mit sich selbst. Das Spiel (Körperübung) er-
reicht dies durch ein Stillegen der drangvollen
Zweckwelt, die Ruhe erreicht es durch die be-
schauliche Einkehr in den inneren Frieden, w. m.
 
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