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Kunsthistorisches Institut <Wien, Universität> [Hrsg.]
Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes — 5.1911

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Tietze, Hans: Eine Zeichnung Sebastiano del Piambos
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https://doi.org/10.11588/diglit.18127#0020
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Hans Tietze Eine Zeichnung Sebastiano del Piombos

unmittelbarer Vorlagen Michelangelos im Gegensatz zu Berenson aufrecht erhält. In der Tat
sind alle drei Rötelzeichnungen trotz der deutlichen und mühsamen Anlehnung an Michel-
angelo in allem Formalen von seiner Zeichenweise ganz verschieden. Uberall zeigen sie
eine Befangenheit im Kontur, eine Kraftlosigkeit in der Modellierung, Weichheit und Zag-
haftigkeit gerade in allen organischen Funktionen, im Stehen, Sitzen, Stützen und Greifen,
also dort, wo wir Michelangelos selbstverständliche Sicherheit bewundern. Statt dieser Vor-
züge andere, eine Freude an Tonschattierungen, eine Anmut der Linien, ein Formen in
Licht und Schatten, kurz die unausrottbare venezianische Begabung.

Alle diese Qualitäten sind auch unserer Zeichnung eigentümlich, mit der noch eine in
Chatsworth befindliche, zum Jakobus der Verklärung in der Halbkuppel über der Geißelung
Christi gehörige zu vergleichen ist (Fig. 6). Das Liniennetz macht hier die Stellung unmittelbar
vor der Ausführung noch deutlicher, die Vergleichung mit dieser (Abbildung bei Bernardini
a. a. O. S. 95) ist aber durch die Verkürzung der Halbkuppel in den photographischen
Aufnahmen erschwert. Die Zeichnung selbst stimmt mit der hier publizierten völlig überein,
nicht nur in Einzelheiten, wie Hände, Füße und Gewandfalten zeigen, nicht nur in dem für
diese Periode Sebastians so charakteristischen Interesse an der starken Verkürzung von
Beinen und Armen, sondern auch im Geist des Ganzen, in der malerischen Weichheit, die
das kraftvolle Herauswachsen der groß gesehenen Gestalten aus der Umgebung nicht hindert.

Denn jenes mühsame Ringen um Formengröße ist nicht umsonst gewesen; mächtig
heben sich der Prophet und der inspirierende Engel vom dunkeln Grunde ab, Gestalten, die
die heiße Sehnsucht nach der Sphäre Michelangelos über die bescheidenen Formen mensch-
licher Geschlechter erhebt. Und gerade weil es sich hier um ein verhältnismäßig neben-
sächliches Beiwerk einer Gesamtdekoration, um die Zwickelfüllung einer abschließenden
Lünette handelt, werden wir ganz inne, wie mächtig Michelangelos Nachbarschaft den
schwachen und etwas bequemen Frate in seinem ganzen Wesen aufgerüttelt und zu stren-
gerem Ernst der Auffassung emporgezwungen hat.
 
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