Die Jugendwerke des Bartolommeo Suardi, genannt Bramantino.
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(Fig. 33). Vitruv (lib. II, cap. I) erzählt folgendermaßen: «Die Menschen wurden nach altem Brauch,
den Tieren gleich, in Wäldern, Dickicht und Höhlen geboren und verbrachten dort ihr Leben, von
Waldesfrüchten sich nährend. In dieser Zeit peitschte ein heftiger Wirbelsturm die dicht gedrängt
stehenden Bäume, deren Aste rieben sich an einander und entzündeten Feuer. Da wandten sich die
Menschen, die in der Nähe waren, erschreckt vor den heftigen Flammen zur Flucht. Nach und nach
aber, als der Sturm sich gelegt und sie
sich wieder näherten, erkannten sie, daß
dieses Feuer von großem Nutzen für
ihren Körper sei durch seine gemäßigte
Wärme; und um es zu erhalten, warfen
sie Holz hinein, führten andere Menschen
an die Stelle und gaben einander durch
Zeichen zu verstehen, welchen Nutzen
man vom Feuer ziehen könne». Aus
diesem gemeinsamen Interesse wird nun
die Entstehung der Sprache abgeleitet.
Vitruvs Schilderung setzt Braman-
tino in ein entzückend schönes Bild um.
Die Mutter mit den beiden Kindern im
Vordergrunde, die Gelagerten links, die
Heranschreitenden gehören zu seinen
anmutigsten Erfindungen. Auch haben
die Zeitgenossen den Zauber dieser Kom-
position gewürdigt. Ein Holzschnitt der
Vitruvausgabe desCesariano (Anno 1521)
kopiert Bramantinos durch einige Hinter-
grundsfiguren vermehrte Komposition
und kehrt wieder in der Ausgabe des
Caporali (Perugia 1536); die beiden
Straßburger Ausgaben (Argentorati, 1543
und 1550) enthalten die vereinfachte
Kopie im Gegensinne.1
Hatte schon bei den Arazzi des Pa-
lazzo Trivulzio unsere Phantasie ge-
schäftig sein müssen, um uns die ur-
sprüngliche Idee des Meisters möglichst
ungetrübt zu offenbaren, so werden wir
ihrer Hilfe in noch erhöhtem Maße hier
bedürfen, wollen wir uns den ganzen Zauber von Szenen wie der zuletzt geschilderten vergegenwärti-
gen. Doch werden wir uns mehr als eine leise Ahnung hiervon niemals verschaffen können; auch
zur Erkenntnis der stilistischen Eigentümlichkeiten bieten sich uns nur wenige Anhaltspunkte. Sind
auch der zumeist symmetrische Aufbau der Kompositionen, die Formen der Bauten (welche wir später
zu betrachten uns vorbehalten) und die Prinzipien der Lichtbehandlung deutlich erkennbar, so sind
doch alle Details in den Figuren, alle Feinheiten der Zeichnung und des Ausdrucks verloren gegangen.
Gleichwohl kann es kaum zweifelhaft sein, an welcher Stelle der Entwicklung Bramantinos wir diese
Werke einzufügen haben. Wir dürften kaum fehlgehen, wenn wir ihre Entstehungszeit nach dem
Das goldene Zeitalter, Intarsia.
Bergamo, S. Bartolommeo.
1 Für den Hinweis auf die Stelle in Vitruv und die erwähnten Holzschnitte des XVL Jahrhunderts schulde ich Herrn
Dr. Arpäd Weixlgärtner Dank.
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(Fig. 33). Vitruv (lib. II, cap. I) erzählt folgendermaßen: «Die Menschen wurden nach altem Brauch,
den Tieren gleich, in Wäldern, Dickicht und Höhlen geboren und verbrachten dort ihr Leben, von
Waldesfrüchten sich nährend. In dieser Zeit peitschte ein heftiger Wirbelsturm die dicht gedrängt
stehenden Bäume, deren Aste rieben sich an einander und entzündeten Feuer. Da wandten sich die
Menschen, die in der Nähe waren, erschreckt vor den heftigen Flammen zur Flucht. Nach und nach
aber, als der Sturm sich gelegt und sie
sich wieder näherten, erkannten sie, daß
dieses Feuer von großem Nutzen für
ihren Körper sei durch seine gemäßigte
Wärme; und um es zu erhalten, warfen
sie Holz hinein, führten andere Menschen
an die Stelle und gaben einander durch
Zeichen zu verstehen, welchen Nutzen
man vom Feuer ziehen könne». Aus
diesem gemeinsamen Interesse wird nun
die Entstehung der Sprache abgeleitet.
Vitruvs Schilderung setzt Braman-
tino in ein entzückend schönes Bild um.
Die Mutter mit den beiden Kindern im
Vordergrunde, die Gelagerten links, die
Heranschreitenden gehören zu seinen
anmutigsten Erfindungen. Auch haben
die Zeitgenossen den Zauber dieser Kom-
position gewürdigt. Ein Holzschnitt der
Vitruvausgabe desCesariano (Anno 1521)
kopiert Bramantinos durch einige Hinter-
grundsfiguren vermehrte Komposition
und kehrt wieder in der Ausgabe des
Caporali (Perugia 1536); die beiden
Straßburger Ausgaben (Argentorati, 1543
und 1550) enthalten die vereinfachte
Kopie im Gegensinne.1
Hatte schon bei den Arazzi des Pa-
lazzo Trivulzio unsere Phantasie ge-
schäftig sein müssen, um uns die ur-
sprüngliche Idee des Meisters möglichst
ungetrübt zu offenbaren, so werden wir
ihrer Hilfe in noch erhöhtem Maße hier
bedürfen, wollen wir uns den ganzen Zauber von Szenen wie der zuletzt geschilderten vergegenwärti-
gen. Doch werden wir uns mehr als eine leise Ahnung hiervon niemals verschaffen können; auch
zur Erkenntnis der stilistischen Eigentümlichkeiten bieten sich uns nur wenige Anhaltspunkte. Sind
auch der zumeist symmetrische Aufbau der Kompositionen, die Formen der Bauten (welche wir später
zu betrachten uns vorbehalten) und die Prinzipien der Lichtbehandlung deutlich erkennbar, so sind
doch alle Details in den Figuren, alle Feinheiten der Zeichnung und des Ausdrucks verloren gegangen.
Gleichwohl kann es kaum zweifelhaft sein, an welcher Stelle der Entwicklung Bramantinos wir diese
Werke einzufügen haben. Wir dürften kaum fehlgehen, wenn wir ihre Entstehungszeit nach dem
Das goldene Zeitalter, Intarsia.
Bergamo, S. Bartolommeo.
1 Für den Hinweis auf die Stelle in Vitruv und die erwähnten Holzschnitte des XVL Jahrhunderts schulde ich Herrn
Dr. Arpäd Weixlgärtner Dank.