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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 32.1915

DOI Artikel:
Sitte, Heinrich: Ein vergessenes Parthenonbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.6174#0424

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Heinrich Sitte.

1

Fig. 2. «Carrey», Südmetopen I — IV (nach Omont, Athenes, pl. 4).

natürlichster Nachbildung wurden wir gewahr und priesen uns glücklich, auch dies erlebt zu
haben.»

Erst volle 50 Jahre später führte die klassische Archäologie endlich eine erstmalige Lösung
der längst brennend empfundenen Aufgabe durch, alle Nachrichten, alle seit der Zerstörung des
Parthenon durch die Explosion von 1687 und seit der Wegführung der meisten Skulpturen durch
Lord Elgin zerstreuten Reste des Kunstwerkes in einem Buche zu sammeln: Michaelis' «Der
Parthenon»1 erschien 1871; was tatsächlich noch vom Bau und von den Bildwerken vorhanden,
was wenigstens in älteren Abgüssen und Zeichnungen noch erhalten war, vereinten der Text- und
Tafelband dieses Werkes. Zwei Jahre später erschien Petersens «Kunst des Phidias». Damals er-
freute sich die ganze Phidias- und Parthenonforschung des auf sicherem Boden fest beruhenden
Besitzes einer kraftvoll gesunden Anschauung des Künstlers und seiner Werke; späterhin wurde
dieser Grundstock in unermüdlicher Kleinarbeit emsig vermehrt, zahlreiche Fragmente konnten an-
gefügt und so freilich meist nur unwesentliche Fortschritte erzielt werden.

Leider sollte unser schöner Besitz nicht vor tief einschneidenden aber, wie man jetzt schon
erkennt, nur vorübergehenden scheinbaren Einschränkungen bewahrt bleiben. Trotz des ausdrück-
lichen Zeugnisses bei Plutarch im Leben des Perikles sollte Phidias' Anteil an der Komposition
der Parthenonskulpturen auf einen verschwindend kleinen Teil der Bildwerke beschränkt werden,
weil der Stil der anderen nicht mit der nach wesentlich verschiedenen Gesetzen geschaffenen
Parthenosstatue oder vielmehr deren kleinen römischen Kopien übereinstimmte. Im Jahre 1880
war in Athen die Varvakionstatuette gefunden worden; von dieser kleinen Nachbildung der Athene
Parthenos ausgehend, unternahm es dann zehn Jahre später Puchstein in seinem Aufsatz «Die
Parthenonskulpturen»2, das Werk des Phidias in einer an Wolfs Prolegomena zu Homer erinnern-
den Art auf mehrere Schöpfer zu verteilen; ein dauernder Erfolg war diesem Versuch einer Uber-
tragung der gegenüber «Homer» möglichen Methode auf die geschichtlich faßbare Gestalt des
Phidias natürlich nicht beschieden; indes trat doch an die Stelle der vollkräftigen Anschauung des
Werkes des Phidias für viele, die sich täuschen ließen, ein Nichts, ein, wie es in Fachkreisen gerne
genannt wurde, Klein-Phidias, der zu der hohen Bewunderung, die das ganze Altertum diesem
größten Künstler gezollt hatte, nicht mehr passen wollte. Die letzten Jahrzehnte der archäologi-
schen Forschung gefielen sich dann in einem fast krankhaften Zurschaustellen dieses dekadenten
Schein-Nichtwissens und suchten den Ruhm des Phidias durch die meist überstürzte und in
keinem Fall sicher zu beglaubigende Zuweisung stilistisch verwandt erscheinender Bildwerke zu ent-
schädigen: ein zweites Scheingebilde entwickelte sich ganz folgerichtig aus dem ersten, ein «Über-
Phidias» sollte den Phidias ersetzen. Doch kehren die meisten Archäologen, wie gesagt, neuerdings
wieder zu der im Altertum nie angefochtenen und von uns ohne Grund nicht zu bezweifelnden

1 Im folgenden immer unter Michaelis zitiert.

■2 Jahrbuch des deutschen archäologischen Instituts V (1890), S. 79 ff.
 
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