Fig. I. Madonna mit dem Kinde, dem hl. Josef und einem anbetenden König.
Venedig, Salute-Kirche.
GESCHICHTE DER VENEZIANISCHEN SKULPTUR
IM XIV. JAHRHUNDERT.
Von
Leo Planiscig.
I.
ährend des XIII. Jahrhunderts bahnte sich eine neue Richtung den Weg durch
die byzantinischen Kunstüberlieferungen Venedigs. Es war die Kunst des
Hinterlandes, der Lombardei und der Emilia, die in Venezien zu einer, wenn
auch späten Entfaltung gelangte. Als in Ferrara, Modena und Verona die
neuen Kirchenbauten und die neuen Skulpturen der Meister Nikolaus und
Wilhelm entstanden, und nachher auch, als Benedetto Antelami das
Baptisterium von Parma und die Kirche in Borgo San Donnino mit Werken
bereicherte, die für Italien den Beginn einer neuen Kunstära bedeuten, stand Venedig ganz im
Banne byzantinischer Kunsttraditionen.
Die Entwicklung der Skulptur im oberitalienischen Festlande, das Vollendungswerk Antelamis,
seine Beziehungen zu Frankreich, diese starke und frische Strömung in der Architektur und in der
Skulptur des XII. und des XIII. Jahrhunderts, die in ihrer Ausstrahlung auch die Kunst der Toskana
befruchtete, konnte jedoch in einer Zeit des künstlerischen Aufschwunges in einer Stadt wie Venedig
nicht spurlos, ohne wenigstens den Wettkampf mit dem herrschenden Byzantinismus aufzunehmen,
vorbeigehen. Die Markuskirche, die während der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts mit Heran-
ziehung eines älteren, basilikalen Baues entstanden war, entbehrte im XIII. Jahrhundert noch den
größten Teil ihres dekorativen Schmuckes. Schon architektonisch eine Kompromißbildung zwischen
Orient und Okzident, eine Vereinigung byzantinischer, d. h. spätantiker Raumauffassung mit dem
abendländisch-romanischen «gebundenen System», zeigt sie auch in der inneren, musivischen Aus-
schmückung, hauptsächlich aber an den Bogenskulpturen der Fassade, die Übernahme jener
Tendenzen, die, im Westen entstanden, durch einen langen, nicht immer ununterbrochenen Prozeß
xxxiii. 5
Venedig, Salute-Kirche.
GESCHICHTE DER VENEZIANISCHEN SKULPTUR
IM XIV. JAHRHUNDERT.
Von
Leo Planiscig.
I.
ährend des XIII. Jahrhunderts bahnte sich eine neue Richtung den Weg durch
die byzantinischen Kunstüberlieferungen Venedigs. Es war die Kunst des
Hinterlandes, der Lombardei und der Emilia, die in Venezien zu einer, wenn
auch späten Entfaltung gelangte. Als in Ferrara, Modena und Verona die
neuen Kirchenbauten und die neuen Skulpturen der Meister Nikolaus und
Wilhelm entstanden, und nachher auch, als Benedetto Antelami das
Baptisterium von Parma und die Kirche in Borgo San Donnino mit Werken
bereicherte, die für Italien den Beginn einer neuen Kunstära bedeuten, stand Venedig ganz im
Banne byzantinischer Kunsttraditionen.
Die Entwicklung der Skulptur im oberitalienischen Festlande, das Vollendungswerk Antelamis,
seine Beziehungen zu Frankreich, diese starke und frische Strömung in der Architektur und in der
Skulptur des XII. und des XIII. Jahrhunderts, die in ihrer Ausstrahlung auch die Kunst der Toskana
befruchtete, konnte jedoch in einer Zeit des künstlerischen Aufschwunges in einer Stadt wie Venedig
nicht spurlos, ohne wenigstens den Wettkampf mit dem herrschenden Byzantinismus aufzunehmen,
vorbeigehen. Die Markuskirche, die während der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts mit Heran-
ziehung eines älteren, basilikalen Baues entstanden war, entbehrte im XIII. Jahrhundert noch den
größten Teil ihres dekorativen Schmuckes. Schon architektonisch eine Kompromißbildung zwischen
Orient und Okzident, eine Vereinigung byzantinischer, d. h. spätantiker Raumauffassung mit dem
abendländisch-romanischen «gebundenen System», zeigt sie auch in der inneren, musivischen Aus-
schmückung, hauptsächlich aber an den Bogenskulpturen der Fassade, die Übernahme jener
Tendenzen, die, im Westen entstanden, durch einen langen, nicht immer ununterbrochenen Prozeß
xxxiii. 5