Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 33.1916

DOI Heft:
I. Theil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Eisler, Max: Der Raum bei Jan Vermeer
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6168#0225
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER RAUM BEI JAN VERMEER.1

Von

Max Eisler.

«Wir sagten : Die ganze Natur offenbare sich durch die
Farbe im Sinne des Auges. Nunmehr behaupten wir, wenn
es auch einigermaßen sonderbar klingen mag, daß das Auge
keine Form sehe, indem Hell, Dunkel und Farbe zusammen
dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand,
die Teile des Gegenstandes voneinander fürs Auge scheidet.
Und so erbauen wir aus diesen dreien die sichtbare Welt und
machen dadurch zugleich Malerei möglich, welche auf der
Tafel eine weit vollkommenere, sichtbare Welt, als die wirk-
liche sein kann, hervorzubringen vermag.»

Goethe, Einleitung in die Farbenlehre.

Die holländische Malerei stand in dem Jahrhundert seit dem Ausbruch des großen Krieges
unter der steigenden Spannung ihres Raumenthusiasmus. Man hat diese Tatsache dahin auslegen
wollen, daß mit ihr der Entwicklungsnerv jener Bildkunst überhaupt gegeben sei. So weit gehen
wir nicht. Nicht das Wesentliche sondern nur ein Wesentliches, allerdings eines vom größten
Gewichte für die Entfaltung des Altholländischen, sehen wir hier am Werke, von der frei- und
großräumigen Natur des Landes zugeführt, von der allgemeinen geschichtlichen Bewegung entfesselt
und emporgetrieben, aus unklaren Anfängen zum sicheren und bewußten Wollen der malenden
Geschlechterkette geworden. Unbestreitbar bleibt der alle Bildarten begreifende Umfang der Raum-
absicht. Die dekorative Form behält hier, wo sie gelegentlich auftritt, das Gepräge ihres fremden,
romanistischen Ursprungs.

Bezeichnend ist das Beispiel der Utrechter Schule. Ausschließlicher als irgendeine andere
steht sie unter solchem auswärtigen Einfluß. Die holländische Gegenströmung kommt von ihren
Stillebenmalern. Denn im Stilleben setzt auch sonst die Raumbewegung mit den ersten Zeichen
ihrer rein holländischen Ausdrucksweise, mit den frühesten Merkmalen der Vollkommenheit ein.
Damit ist schon die Richtung des allgemeinen Aufstieges vorbestimmt: Er sollte im Stilleben, nicht
als Gegenstand sondern als Auffassung, ausmünden.

Zwischen diesen beiden Fixpunkten, über dieser Konstante gemeinholländischer Grundge-
sinnung gewinnen die jeweils hervortretenden Raumauffassungen dreier Generationen die Ober-
hand. Der doktrinären Nachlese folgt die Raumdichtung, ihr der volle Sieg der Natürlichkeit.

Inwieweit in dieser Abfolge ein allgemeines Kulturgesetz, das der generativen Antithese und
ihres schließlichen Ausgleichs, wirksam wird, kann hier nicht näher erörtert werden. Aber der Zu-
sammenhang mit dem Lebensganzen ist zu offenliegend, um nicht schon durch knappe Hinweise
erledigt zu werden. Die Kriegszeit kann noch nicht die Männer finden, die auch ihr ausgereiftes
geistiges Bild geben. Sie muß vorerst ihr Auslangen bei dem bewegungsfähigen Rückstand ihrer
Vorepoche suchen: Der Perspektiviker Hans Vredeman de Vries wird in seinem Alter und mit
seinem Kreise Zeitgenosse des umgreifenden exakten Betriebes von Mathematik und Philologie.
Erst dem zweiten Geschlecht erfüllt sich auch geistig das Erbe des politischen Aufschwunges:
Gleichzeitig erheben sich Malerei und Dichtung in Rembrandt und Joost van den Vondel zur
höchsten hier möglichen Grenze. Aber der schließliche Ausgleich der gegensätzlichen Richtungen

1 Diese Studie ist gedacht als Band VIII der «Arbeiten des kunsthistorischen Institutes der k. k. Universität Wien»
(Lehrkanzel Strzygowski).

XXXIII. 29
 
Annotationen