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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

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I. Teil: Abhandlungen
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Berenson, Bernard: Eine Wiener Madonna und Antonellos Altarbild von S. Cassiano
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https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0047
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Eine Wiener Madonna und Antonellos Altarbild von S. Cassiano.

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es liegt auf der Hand, daß mir vielleicht gewisse Feinheiten entgehen, die möglicherweise mein
L rteil beeinflussen könnten. Andererseits aber zeigt sogar die Photographie, daß das Bild durch
die von Lotte Sykora vorgenommene Reinigung bedeutend gewonnen hat. Das Gesichtsoval der
Jungfrau erscheint länglicher und hat seinen etwas leeren und bäurischen Ausdruck verloren; das
Kind ist lebhafter und lebendiger, die Modellierung trotz abgeriebener Stellen subtiler und feiner;
die Linie ist bewegter, das Eckige mehr gerundet. Wir können das Bild nicht mehr für die Arbeit
eines Provinzmalers halten, es ist das vollendete 'Werk eines Künstlers. Wer dieser war, soll im
Folgenden erörtert werden.

Wenn wir alles in Betracht ziehen, was wir von Antonello wissen, müssen wir die Wiener
Madonna unbedingt als ein Werk aus seinem Kreise bezeichnen; darüber kann kein Zweifel be-
stehen. Die einzige Frage ist die, ob es von dem Meister selbst gemalt ist oder von einem Nach-
folger. Um sie zu beantworten, müssen wir einige Untersuchungen anstellen. An erster Stelle
haben wir die inneren Merkmale zu prüfen und zu sehen, ob das Bild von Antonello gemalt sein
kann. Dann müssen wir beweisen, daß dafür kein anderer Künstler mit gleicher Wahrscheinlich-
keit in Betracht kommt. Weiter werden wir die Texte heranziehen, die über das Altarbild von
S. Cassiano handeln, und entscheiden, ob unsere Madonna einen Teil davon gebildet haben
könnte. Endlich, wenn die Wiener Madonna der Teil eines Altarbildes war, das notwendiger-
weise einen bedeutenden Einfluß ausüben mußte, dürfen wir wohl erwarten, Spuren davon in
Kunstwerken vorzufinden, die in den Jahren nach Antonellos Aufenthalt in Venedig entstanden
sind, und müssen auch darnach Ausschau halten.

Wir wollen also vor allem andern die Wiener Madonna sorgsam und bis ins kleinste
betrachten und sehen, ob sie die bezeichnenden Merkmale, die Vorzüge und besonderen Eigen-
tümlichkeiten eines eigenhändigen Werkes von Antonello besitzt.

Sie sitzt, fast völlig dem Beschauer zugewandt, vor einem faltigen Vorhange zwischen den
hohen Seitenlehnen eines logenartigen Thrones, die Füße auf einem flachen Kissen ruhend. Auf
ihrer ausgestreckten rechten Hand liegen Kirschen, während ihre linke auf der Schulter des heili-
gen Kindes ruht, das auf ihrem Schöße sitzt, die rechte Hand segnend erhoben, mit der linken
ein auf seinen Knien liegendes geöffnetes Buch haltend. Beide, Mutter und Kind, blicken mit
weitgeöffneten Augen aus dem Bilde heraus, sie nachdenklich, das Kind mehr aufmerksam. Beider
Mund ist leicht geöffnet, seiner wie im Sprechen, ihrer, als wäre sie eben im Begriffe, es zu tun.
Unten links auf dem Bilde erscheinen zwei Hände; die rechte stützt das Glas, das die linke
umfaßt hält.

Wenn wir versuchen, den Schöpfer eines unbekannten Bildes zu bestimmen, so betrachten
wir zuerst unwillkürlich die Gesichter. Ich bin nicht sicher, ob uns diese in unserem Bilde
sogleich auf Antonello bringen würden. Doch dies ist nicht verwunderlich; denn dieser Künstler
hat keine bestimmten, immer wiederkehrenden Gesichtstypen. Man wird nicht imstande sein, auch
nur zwei Gesichtsformen zu finden, die sich vollständig gleichen. Unsere Madonna hat sowohl
eine gewisse Ähnlichkeit mit der der Antwerpener «Kreuzigung» als auch mit dem «Sebastian» in
Dresden, weniger naturalistisch als die erste, weniger konventionell als der zweite. Aber diese
Tatsache genügt nicht, um darauf die Zuschreibung eines Bildes zu stützen. Wir haben dies
auch gar nicht nötig; denn glücklicherweise fehlt es nicht an anderen, noch überzeugenderen
Beweisen.

Viel bezeichnender für Antonello als alles andere ist die Tendenz, seine Entwürfe auf geo-
metrischen Grundformen aufzubauen, denen sich dann die darzustellenden Figuren möglichst
genau anpassen. In unserem Falle ist es eine hohe Pyramide, der die ganze Gruppe ein-
 
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